reihe:there_aint_no_justice:kapitel_8
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reihe:there_aint_no_justice:kapitel_8 [10.09.2020 07:33] – hikaru_mitena | reihe:there_aint_no_justice:kapitel_8 [04.11.2020 14:15] (aktuell) – hikaru_mitena | ||
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===== Kapitel 8 ===== | ===== Kapitel 8 ===== | ||
+ | Nox drehte das Radio ein wenig lauter. Das melancholische Klavierintro von Gary Jules „Mad World“ entfaltete sich im Innenraum des Vitos. | ||
+ | Wie passend, wo er doch soeben sein kleines Präsent für das Ermittlerteam im „Fall Meywald“ ausgeliefert hatte. | ||
+ | Bright and early for their daily races | ||
+ | Going nowhere, going nowhere | ||
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+ | Die Rückschläge der vergangenen Wochen hatten dem Team hart zugesetzt, Irinas Schwiegervater, | ||
+ | Siel hatte das sehr persönlich genommen, nicht zuletzt, weil Nox auch ein Teammitglied hatte eliminieren müssen. | ||
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+ | Hello teacher tell me what’s my lesson | ||
+ | Look right through me, look right through me. | ||
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+ | Der Ermittler war zu bedauern, man hatte ihm den Fall entzogen, die Verantwortung für das Desaster auf seine Schultern geladen und ihn nach Hause geschickt. Sein Team war aufgelöst und anderen Aufgaben zugeteilt worden. Siel stand buchstäblich vor den Scherben seiner Karriere. | ||
+ | Zum Ausgleich hatte Nox ihm dieses Präsent zukommen lassen, das nun bei einer Nachbarin auf ihn wartete. Eine kleine Anerkennung für seine Bemühungen, | ||
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+ | When people run in circles, it’s a very, very | ||
+ | Mad world | ||
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+ | Die Klaviermelodie des Outros wurde vom Anfang des nächsten Liedes abgeschnitten, | ||
+ | Vor ihm sprang eine Ampel auf Rot. | ||
+ | Er reihte sich in die wartenden Fahrzeuge ein und nutzte die Gelegenheit, | ||
+ | Es war Irinas Best-Of CD, die sie vor langer Zeit mit ihrer Freundin gehört hatte. Nox hatte die Stücke lange studiert und dadurch gleichsam ihr Wesen erforscht. Vieles, was die Musik ihm verraten hatte, sah er nun bestätigt. | ||
+ | Die Ampel sprang auf Grün, und der Verkehr setzte sich wieder in Bewegung. Nox folgte dem Vorschlag des Navis, um einem Stau auszuweichen. Wenig später preschte der Vito über die Autobahn. | ||
+ | Die Musik, die ein Mensch präferierte, | ||
+ | Ein messerscharfes Lächeln umspielte seine Lippen. | ||
+ | Irina war immer noch nicht aus ihrem Versteck gekrochen. | ||
+ | Offensichtlich hatte sie endlich Zugang zu der verborgenen Stärke in sich gefunden. Dieses anfängliche Einigeln, nach dem Mord an ihrem Verlobten, war nur eine Unsicherheitsreaktion gewesen, die auf ihrer damaligen, naiven Weltsicht gründete. | ||
+ | Nox hatte ihr gezeigt, wie das Leben wirklich schmeckte. | ||
+ | Wie ging sie damit wohl um? | ||
+ | Die Tatsache, dass sie sich nicht erpressen ließ, verleitete zu der Annahme, dass sie einen gravierenden Sinneswandel durchlief, an dessen Ende sie zu Erstaunlichem fähig sein mochte. | ||
+ | Nox trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. | ||
+ | Die Tachonadel hüpfte nach oben. | ||
+ | Es wäre bedauerlich, | ||
+ | Er brauchte eine neue Taktik. Einen Grund, der sie aus ihrem Versteck lockte. Etwas, dem sie nicht widerstehen könnte. | ||
+ | Die entscheidende Frage war, ob sie den Laptop noch besaß. | ||
+ | In all der Zeit hatte sie ihn nicht ein einziges Mal eingeschaltet, | ||
+ | Wahrscheinlich hatte sie noch keine Möglichkeit gehabt, um irgendwelche Vorsichtsmaßnamen ergreifen zu können, und wartete geduldig auf eine Gelegenheit, | ||
+ | Die Ausbeute dürfte recht enttäuschend sein, dachte er schmunzelnd, | ||
+ | Dennoch, ein versierter Hacker könnte eine Handvoll brauchbarer Daten aus dem Rechner gewinnen, etwa die E-Mail Adresse des Kontaktes und damit auch die Kanzlei. | ||
+ | Wenn Irina die Identität des Auftraggebers herausfinden wollte, wäre dies ihre einzige Spur. | ||
+ | Nox drosselte die Geschwindigkeit, | ||
+ | Die Kanzlei war für mehr als ein Jahrzehnt seine Tarnung gewesen, aber wie es aussah, musste er sich wohl eine neue zulegen. Seinen Partner würde er einfach im Zuge der Firmenauflösung entlassen, er war ohnehin nicht mehr vertrauenswürdig. Hinter der Wette musste mehr stecken, als der Bückling zugegeben hatte. In diesem Sinne stand zu befürchten, | ||
+ | Geschäftsbeziehungen waren nun mal nicht für die Ewigkeit gedacht. | ||
+ | Einzig für die Räumlichkeiten der Kanzlei hatte der Killer noch einen kurzfristigen Verwendungszweck. | ||
+ | Er würde Irina eine Falle stellen, der sie nicht widerstehen könnte; selbst, wenn sie es durchschauen sollte, würde sie sehenden Auges hineinlaufen, | ||
+ | Die Wahrheit würde sicher eine Überraschung sein. | ||
+ | Nicht zum ersten Mal spielte Nox mit der Vorstellung, | ||
+ | Der Vertragsbruch, | ||
+ | Er würde jedoch auf einen angemessenen Gegenwert bestehen, wenn Irina die gewünschten Informationen haben wollte. | ||
+ | Das Leben verteilte keine Geschenke. | ||
+ | Die Lippen des Killers kräuselten sich zu einem spöttischen Lächeln. | ||
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+ | „Sie ist da!“, Schwester Benedicta gestikulierte aufgeregt am Rande des Gemüsebeetes mit den Armen. Irina, die eben noch violette Kohlrabi-Setzlinge in einer langen Reihe in die Erde gepflanzt hatte, stand auf, wischte feuchten Dreck von der Schürze über ihrer Schwesterntracht und bog den Rücken zurück, um die verspannten Muskeln zu lockern. | ||
+ | Die Beschwerden des ersten Trimesters nahmen allmählich ab, und Irina fühlte sich langsam wieder wohl in ihrer Haut. | ||
+ | „Kommen Sie mit!“ | ||
+ | Sie lächelte der Nonne entgegen und stapfte durch den weichen Boden auf sie zu. In den letzten Wochen hatten die Nonnen einen Narren an ihr gefressen, seit sie Schwester Aloysia gegenüber erklärt hatte, das Kind zur Welt bringen zu wollen. Von diesem Moment an war sie zu einer Art Maskottchen des Ordens geworden, die Mutter Oberin hatte verfügt, dass die Schwestern sie nach Kräften unterstützen sollten. | ||
+ | So verlief Irinas Schwangerschaft nun beinahe völlig normal. Von vitaminreichem Gemüse über Folsäure- Ergänzungsmitteln bis zu einer Hebamme, die die Entwicklung des Kindes überwachte, | ||
+ | Schwester Benedicta hatte sich währenddessen mit rührendem Eifer bemüht, eine Leibwache zu organisieren. Aus welchem Hut sie diese letztendlich gezaubert hatte, war Irina schleierhaft, | ||
+ | Mit wachsender Neugier folgte sie der Nonne an den Beeten vorbei, bis sie den Ziergarten des Innenhofs erreichten. | ||
+ | Im Schatten des Neubaus warteten Schwester Aloysia und die Fremde. | ||
+ | Sie war groß, durchtrainiert, | ||
+ | Ihre Kleidung schien aus dem Nato-Shop zu stammen, denn sie verlieh ihr etwas Martialisches. | ||
+ | Irina erkannte auf Anhieb, dass diese Frau gefährlich sein konnte. Der Blick ihrer dunkelbraunen Augen war freundlich, enthielt aber eine unterschwellige Kälte, die sofort an Nox erinnerte. | ||
+ | War dies der Blick von Menschen, die gemordet hatten? | ||
+ | Sie schüttelte den Gedanken ab, denn sie hatten die beiden Wartenden erreicht. Die Fremde schenkte ihr ein ehrliches Lächeln, die Kälte war aus ihrem Blick verschwunden, | ||
+ | „Ich bin Miryam“, sagte sie schlicht und reichte ihr die Hand. | ||
+ | „Freut mich, ich bin Irina.“ Verlegen wischte sie sich noch einmal die erdigen Hände an der Schürze, ohne Erfolg. Trotzdem ergriff sie lächelnd die Hand und wurde sofort in eine herzliche Umarmung gezogen, auf die Wange geküsst und gedrückt. Bevor Irina so richtig wusste, wie ihr geschah, hatte Miryam sich schon wieder von ihr gelöst: „Schwester Benedicta und ich sind gute Freundinnen. Als sie mir schrieb, dass der Orden eine Leibwache benötigt, habe ich sofort meine Sachen gepackt. Gehen wir ein paar Schritte, um uns kennenzulernen.“ | ||
+ | Sie sprach einen leichten Akzent, den Irina nicht zuordnen konnte. | ||
+ | Die beiden Nonnen zogen sich zurück. Ziellos schlenderten die ungleichen Frauen durch den Ziergarten, verließen den Schatten der Kirche und traten in die Sonne hinaus. | ||
+ | „Erzähl mir von dir, was ist dir widerfahren? | ||
+ | Irina schluckte, warf einen zweiten, genaueren Blick auf ihre Leibwächterin, | ||
+ | Wenn Miryam lächelte, waren ihre Augen von einem klaren, freundlichen Glanz erfüllt, der auf das ganze Gesicht übergriff und ihr etwas sehr Einnehmendes verlieh. Irina fand sie sympathisch. | ||
+ | Dennoch fiel es ihr immer noch schwer, über die vergangenen Ereignisse zu reden, die ihr Leben so plötzlich aus den Angeln gerissen hatten. | ||
+ | Noch eine Spur schwieriger war es, einer Fremden davon zu erzählen. | ||
+ | Sie versuchte, sich so kurz wie möglich zu fassen: | ||
+ | „Ich war das Ziel eines Auftragsmörders, | ||
+ | Miryam nickte nachdenklich. | ||
+ | Langsam folgten sie dem gepflasterten Weg durch den Ziergarten. Das Steinkraut stand in voller Blüte. Am Rand des Beetes nickten noch eine Handvoll verspäteter Blausterne in einem sanften Windhauch. | ||
+ | „Kannst du den Auftragsmörder beschreiben? | ||
+ | Irinas Blick verdüsterte sich. Die Erinnerung aufzuwühlen war unangenehm, aber ihr war klar, dass es keinen Sinn hatte, dieses Gespräch auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. | ||
+ | „Er nennt sich Nox“, begann sie, „Er ist recht groß, muskulös, achtet auf ein gepflegtes Äußeres. Seine Haare sind kurz, vermutlich blond. Er hat recht ausgeprägte Wangenknochen, | ||
+ | Hm“, machte die Leibwächterin und wirkte nachdenklich, | ||
+ | „Auch das noch. Habe ich mich jetzt mit dem Mitarbeiter des Monats angelegt? | ||
+ | Miryam lächelte flüchtig: „Dein Humor gefällt mir. Nun, wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege, dann ist mit dem Typ nicht gut Kirschen essen. Er gilt als präzise, professionell, | ||
+ | „Ausgefallen ist eine sehr euphemistische Umschreibung“, | ||
+ | „Wie verhält er sich allgemein? | ||
+ | Irina lachte kurz trocken auf: „Er ist furchtbar höflich. Die meiste Zeit hat er mich sogar gesiezt. So etwas hätte ich nun wirklich nicht von einem Auftragsmörder erwartet“, | ||
+ | Miryam strich ihr beruhigend über den Rücken. | ||
+ | „Tut mir leid, dass ich die Erinnerung so schnell wieder auffrische, aber ich muss ihn erkennen können, wenn er dich findet, noch besser, bevor er dich findet, selbst wenn es erst an deiner Tür geschieht. Gibt es Auffälligkeiten? | ||
+ | Irina zog die Stirn in Falten. Die verschiedenen Aspekte, die Nox‘ Persönlichkeit auszeichneten, | ||
+ | „Hm, ein optisches Erkennungsmerkmal habe ich nie bewusst wahrgenommen. Sein Gang ist aber tatsächlich ein wenig auffällig. Er macht keine überflüssigen Bewegungen, alles geht in einander über und dann wirkt es so, als würde er-“, sie suchte nach dem richtigen Wort, „-gleiten, | ||
+ | Miryam nickte und ließ ihren Blick über die Zierblumenbeete schweifen, blieb einen Moment lang an einer Gruppe roter Tulpen hängen, bevor sie wieder zu Irina sah: „Fällt dir noch mehr ein?“ | ||
+ | „Man hat immer das Gefühl, dass er sich über einen lustig macht, wenn man mit ihm redet. So, als würde er seine Reaktionen bewusst kontrollieren und alles ins Lächerliche ziehen“, jetzt fielen Irina tausend Dinge auf einmal ein und alle wollten gesagt werden, „Seine Augen sind eisblau, fast leuchtend, er hat einen eisigen, stechenden Blick, mit dem er mich oft in Grund und Boden starren konnte. Er ist intelligent, | ||
+ | Er kann eine Gastherme reparieren und wie ein Anästhesiearzt einen peripheren venösen Zugang legen. Vor der Folter hat er immer irgendwelches Fachwissen zum Besten gegeben, um den psychischen Druck zu erhöhen. Das hat auch leider oft genug funktioniert“, | ||
+ | Miryam lächelte nachsichtig: | ||
+ | „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ihm ein Fehler unterläuft. Er hat mich geschätzt monatelang beobachtet und ausspioniert, | ||
+ | „Er hat dir Tee gekocht?“ hakte Miryam ungläubig nach. | ||
+ | Irina knurrte genervt, jetzt schwang unterdrückter Zorn in ihrer Stimme mit: „Er hat auch Frühstück gemacht und mich gezwungen, mit ihm spazieren zu gehen. Einmal hat er mich sogar gesund gepflegt, weil ich mich erkältet hatte. Oh, nicht zu vergessen: Die Verletzungen durch seine Folter, ja, die hat er hinterher ebenfalls gewissenhaft verbunden. Dieses Aas!“ | ||
+ | Irina ballte die Hände zu Fäusten. | ||
+ | Ihre Stimme zitterte jetzt vor Wut: „Das hat er nur gemacht, damit ich länger durchhalte, damit er sich immer wieder eine neue Demütigung ausdenken, eine neue Gemeinheit einfallen lassen, oder eine neue Foltermethode an mir ausprobieren konnte. Ich glaube beinahe, dass er mich gar nicht mehr töten wollte, weil es ihm so viel Spaß gemacht hat, mich leiden zu sehen!“ | ||
+ | Miryam nickte beschwichtigend, | ||
+ | „Ich wünschte, ich könnte ihm heimzahlen, was er mir angetan hat! Ich würde wirklich, also, ich könnte bestimmt -“, sie brach mit einem zornigen Ausruf ab, unfähig ihre Gefühle in Worte zu kleiden. Scharf sog sie die kühle Frühlingsluft ein, versuchte das Zittern ihrer Hände unter Kontrolle zu bringen und sortierte ihre Gedanken. | ||
+ | „Ich möchte mich gerne selbst verteidigen können“, sagte sie schließlich langsam und bestimmt. Miryam warf ihr einen erstaunten Blick zu, schwieg aber. | ||
+ | „Bitte, ich möchte wirklich lernen, auf mich selbst aufzupassen. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ich ihm noch einmal begegne und ihm erneut hilflos ausgeliefert bin. Ich will mich wehren.“ | ||
+ | Die letzten Worte hatte sie mit grimmiger Überzeugung hervorgepresst. | ||
+ | „Ich kann dir sicher einiges zeigen“, begann Miryam zweifelnd. „ Aber die Schwangerschaft wird dich einschränken, | ||
+ | „Ist mir egal, bring mir bei, was möglich ist, ich will es wenigstens versuchen.“ | ||
+ | „Bist du sicher, dass du einen Menschen ermorden könntest, wenn es so weit ist? Darauf würde es schließlich hinauslaufen.“ | ||
+ | Die Leibwächterin blickte Irina scharf an. | ||
+ | „Nicht irgendeinen Menschen, aber diesen ganz bestimmt“, | ||
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+ | Die Leibwächterin war direkt neben Irina einquartiert worden. Das Zimmer stellte ein genaues Abbild ihrer eigenen Kammer dar. In der Zelle stapelten sich mehrere Hartschalenkoffer, | ||
+ | „Hier“, sagte sie knapp. | ||
+ | Unsicher und ein wenig überrumpelt nahm diese die Waffe entgegen. Sie wog nicht so viel, wie sie erwartet hätte. Die Quelle des Todes war nicht schwerer als ein Paket Zucker, stellte sie erschrocken fest. Die Überzeugung, | ||
+ | „Nicht so schüchtern, | ||
+ | Miryam schüttelte den Kopf: „Ich glaube, wir fangen besser ganz klein an. Gib mal her.“ | ||
+ | Irina reichte ihr die Pistole zurück, froh darüber, sie wieder abgeben zu dürfen. Die Erleichterung musste ihr deutlich ins Gesicht geschrieben stehen, denn die Leibwächterin grinste schief: „Keine Sorge, wenn ich dir gezeigt habe, wie man eine Waffe auseinander und wieder zusammen baut, dann wird das Gefühl verschwinden. Also, das hier ist eine Jericho 941, das Magazin fasst 15 Schuss 9mm Munition.“ | ||
+ | Sie benannte die einzelnen Teile der Pistole und erklärte ihre Funktion, während sie die Waffe zerlegte. Irina war überrascht, | ||
+ | Was hatte sie erwartet? Das Sterben an sich war schon immer eine deprimierend simple Angelegenheit gewesen. Sie hatte es doch so oft selbst erlebt, wenn sie die verstörten und traumatisierten Hinterbliebenen getröstet hatte, weil ein Unfall einen geliebten Menschen aus dem Leben riss. | ||
+ | Warum war sie jedes Mal aufs Neue schockiert, wenn das Leben seine offensichtliche Vergänglichkeit demonstrierte? | ||
+ | Jetzt war sie im Begriff, auf die andere Seite zu wechseln. Dies war ihre erste Chance, sich aktiv zur Wehr zu setzen und für ihre Überzeugungen einzustehen, | ||
+ | Es wurde Zeit, aus dem Schatten ins Licht zu treten und eine klare Position zu beziehen. | ||
+ | „Wie baue ich die Waffe wieder zusammen? | ||
+ | „Willst du es selbst versuchen? Zuerst die Feder in den Lauf einlegen. Genau.“ | ||
+ | Irina setzte die Jericho zusammen, was ihr verblüffend leicht fiel. Jetzt fühlte sich die Waffe schon weniger unheimlich an. | ||
+ | Sie zerlegte sie die halbautomatische Selbstladepistole erneut und baute sie noch einmal zusammen. Miryam sah aufmerksam zu, fragte Namen und Funktion der einzelnen Teile ab und schien erfreut, dass Irina sich alles gemerkt hatte. | ||
+ | Sie wiederholten die Übung mit einer Beretta 92 und einer Glock. | ||
+ | Es gab kaum nennenswerte Unterschiede. | ||
+ | Zuversicht stieg in Irina auf. | ||
+ | Eine Waffe war doch kein Mysterium, es gab nicht viel über das Werkzeug des Todes zu lernen, das so leicht und angenehm in der Hand lag, wenn man seine Vorurteile überwunden hatte. | ||
+ | „Wann bringst du mir bei, wie man schießt? | ||
+ | „Wenn du die Waffe in unter einer Minute auseinander- und wieder zusammenbauen kannst.“ | ||
+ | Die Kirchenglocken riefen zur Vesper. Erstaunt stellte Irina fest, dass es Zeit für das Abendgebet war, und erhob sich seufzend. | ||
+ | „Wir müssen zur Andacht, und danach gibt es Abendbrot“, | ||
+ | „Dann machen wir morgen weiter“, grinste Miryam, der Irinas Tonfall nicht entgangen war. | ||
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+ | Die Meldeadresse des Killers bestand aus einem äußerlich baufälligen Haus aus roten Ziegelsteinen. Von außen vergitterte, | ||
+ | Nox stellte in allen Zimmern die Fenster auf Kippstellung, | ||
+ | Der Briefkasten war leer, seine Post wurde in der Kanzlei zugestellt. | ||
+ | Das Haus war für ihn der Kompromiss aus Notwendigkeit und pragmatischem Nutzen, hier lebte die Identität des Rechtsanwalts, | ||
+ | Das Erdgeschoß war leer, nur die Küche enthielt eine aus der Mode gekommene Spüle und Unterschränke. Den Kühlschrak musste der Killer erst wieder ans Netz hängen, bevor er gluckernd zum Leben erwachte. | ||
+ | Eine schmale Treppe führte in den ersten Stock und zum Schlafzimmer, | ||
+ | Nur dem Bad hatte er besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Neben dem üblichen Interieur beinhaltete der geflieste Raum eine abwaschbare Arztliege, für den Fall, dass er einmal medizinische Hilfe benötigte. | ||
+ | Bis jetzt war das noch nicht vorgekommen. | ||
+ | Nox beendete seinen Rundgang und wandte sich dem Keller zu. | ||
+ | Dieser stellte das genaue Gegenteil der darüber liegenden Etagen dar. Sämtliche Möbel, die ein Haushalt besitzen mochte, stapelten sich hier in mehrfacher Ausführung und moderten in der kühlen Feuchtigkeit vor sich hin. | ||
+ | Einem unsichtbaren Pfad folgend, schlängelte Nox sich durch das Gerümpel, duckte sich unter Holzlatten hindurch, die quer auf einem instabil wirkenden Haufen aus Rattanstühlen lagen und kletterte über seitlich angelehnte, unverarbeitete Rigipswände, | ||
+ | Vor der Rückwand des Kellerraumes erhob sich ein Berg aus Bauschutt, der nahtlos aus dem chaotischen Gerümpel entsprang. Für das Auge eines unerwünschten Betrachters war nicht zu erkennen, dass der Berg an einem Regal endete, welches gewissenhaft präpariert und so befestigt war, dass dahinter ein schmaler Gang übrig blieb, der an einer schmiedeeisernen Tür endete. | ||
+ | In dem schmalen Durchgang klappte Nox eine rostige Revisionsklappe herunter, dahinter erwachte ein Touchpad blinkend zum Leben und gewährte dem Killer Zutritt zu seinem privaten Besitz, nachdem er einen zehnstelligen Code eingegeben und mit seinem Fingerabdruck bestätigt hatte. Gereinigte, trockene Luft strömte aus der geöffneten Tür, bis er sie hinter sich zuzog. Seine Schritte klangen hohl auf dem Metallboden des Tresorraumes, | ||
+ | Er trat an ein schmales Regalbrett heran, das die wenigen Gegenstände beinhaltete, | ||
+ | Viel war es nicht. Ein gerahmtes Familienfoto, | ||
+ | Marie war die Erste gewesen. | ||
+ | Neben dem Armband platzierte er nun Irinas CD und setzte sich in den ledernen Sessel, um seine Sammlung zu betrachten. | ||
+ | Diese Gegenstände repräsentierten seine Herkunft, Beruf, Vorlieben und nun auch seine Fehlbarkeit. | ||
+ | Gleichzeitig standen sie für Menschen, also Schmetterlinge, | ||
+ | Nox zollte Irina auf seine Weise Respekt. | ||
+ | Indem sie auf diesem Regalbrett anwesend sein durfte, gab der Killer zu, dass sie ihn überrascht hatte. Ihm war ein Fehler unterlaufen, | ||
+ | Welche Lehre sollte er daraus ziehen? | ||
+ | Eine Weile hing er seinen Gedanken nach, doch er kam zu keinem sinnvollen Schluss. Er würde sich wohl eingehender mit der Frage auseinandersetzen müssen. | ||
+ | Bevor er den Raum verließ, kontrollierte er die Waffen, die er sich im Laufe der Zeit zugelegt hatte und die hinter schwenkbaren Wänden hingen. | ||
+ | Morgen würde er die Kanzlei auflösen. | ||
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+ | Die Tiefgarage des riesigen Büro-Komplexes roch wie alle Tiefgaragen nach dieser charakteristischen Mischung aus Abgasen, verdunstetem Kraftstoff und abgestandener Luft. Nox‘ Schritte hallten gebrochen von den kahlen Betonwänden wider. Sein Mantel wehte hinter ihm her, gewährte aber keinen Blick auf die Waffe, die er heute bei sich trug. | ||
+ | Im Fahrstuhl wählte er die achte Etage aus und begann eine harmonische Melodie vor sich hin zu pfeifen. | ||
+ | Mit einem hellen Gong glitten die Türen lautlos auseinander. | ||
+ | Nox betrat einen langen beleuchteten Flur, der in beide Richtungen zu einer Vielzahl von Büroräumen führte und nach billigem Teppichboden, | ||
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+ | Rechtsanwaltskanzlei Radek | ||
+ | Thaddeus Mehlkorn Fachanwalt für Steuerrecht | ||
+ | Sergej Wolf Fachanwalt für Steuerrecht | ||
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+ | Nox drückte die Türklinke herunter und trat ohne Hast hindurch. | ||
+ | Das Büro bestand aus einem einzigen, riesigen Raum, ein dicker, bordeauxroter Teppich verschluckte seine Schritte, links stand ein Schreibtisch mit Blick zur Tür, wie ein Empfangstresen. | ||
+ | Die Fensterfront geradeaus gewährte den Blick auf ein Stück blauen Himmels und weitere Bürogebäude. | ||
+ | In der Mitte befand sich ein runder Konferenztisch, | ||
+ | Es war niemand zu sehen, Nox blickte sich misstrauisch um, sein Blick blieb an den drei Regalreihen hängen, die rechts, hinter dem Konferenztisch in den Raum ragten und ein kleines Separee abgrenzten, in dem sein eigener Schreibtisch stand, wenn er in auftragsschwachen Zeiten die Kanzlei besuchte. Nox schätzte die Nische, weil er von dort aus den ganzen Raum überblicken, | ||
+ | Leise Stimmen drangen aus einer der Regalreihen. | ||
+ | Der Killer erkannte die Stimme seines Partners und eine fremde weibliche Stimme. | ||
+ | Nox sah seine Vermutungen bestätigt. | ||
+ | Er warf die Tür, die er immer noch in der Hand hielt, krachend ins Schloss. Augenblicklich verstummte das Gespräch, Akten raschelten, und der Bückling trat aus der Regalreihe. Er war klein, kahlköpfig und dürr, die dicke Brille, die er trug, verlieh ihm Ähnlichkeit mit einem glupschäugigen Fisch. Bei Nox‘ Anblick erbleichte er. „Radek, was für eine Überraschung“, | ||
+ | Sein fischäugiger Partner blieb wie angewurzelt stehen, drehte sich halb zu den Regalen zurück, bevor er antworte: „Niemand, nur eine Praktikantin“, | ||
+ | „Eine Praktikantin? | ||
+ | „Sie arbeitet unentgeltlich, | ||
+ | „Ach, ist dem so? Ruf sie her“, zischte der Killer. | ||
+ | „Linda, kommst du bitte einmal?“, rief der fischäugige, | ||
+ | Aus der Regalreihe trat eine junge Frau. Ihr Rock war eine Spur zu knapp und sah zerknittert aus, die Bluse war ein wenig tiefer ausgeschnitten als nötig, was einen hervorragenden Blick auf ihre üppige Oberweite gestattete. Rotblonde Locken umflossen ihr zartes Gesicht wie ein wirbelnder Wasserfall. | ||
+ | Nox verzog die Lippen zu einem raubtierhaften Grinsen. Das Mädchen mochte vielleicht noch zur Schule gehen, oder grade erst die Schule beendet haben. | ||
+ | Sie trug einen Stapel loser Unterlagen elegant in der Armbeuge, lud sie auf dem Konferenztisch ab, als sie ihn passierte und näherte sich den beiden ungleichen Männern. Sie trug keine hochhackigen Schuhe, sondern Ballerinas, die bei jedem Schritt in dem dicken Teppich zu versinken schienen. Ihr Blick war offenherzig und vorurteilsfrei. | ||
+ | „Guten Morgen“, grüßte sie mit einem Lächeln. Sie musste den Kopf fast in den Nacken legen, so gravierend war der Größenunterschied zwischen dem Killer und dem Mädchen, „Ich bin Linda, ich mache ein Praktikum in ihrer Kanzlei.“ | ||
+ | „Ich fürchte, ich muss Ihnen mitteilen, dass Sie ihr Praktikum nicht fortsetzen können“, entgegnete Nox ebenso freundlich. | ||
+ | Ihr Lächeln wich einem enttäuschten Ausdruck. | ||
+ | Der Bückling strich sich nervös über den Kopf, als wollte er die ausgefallenen Haare sortieren, doch er traute sich nicht, dem Killer zu widersprechen. | ||
+ | „Habe ich etwas falsch gemacht? Das tut mir leid.“ | ||
+ | „Ich bin sicher, dass sie immer zur vollsten Zufriedenheit meines Partners gearbeitet haben, leider hatte er nicht das Recht, Sie einzustellen, | ||
+ | „Ich verstehe“, | ||
+ | „Auf Wiedersehen“, | ||
+ | Diese blinzelte ihn zerstreut an und verließ das Büro mit einer gemurmelten Verabschiedung. | ||
+ | Das darauf folgende Geräusch des zufallenden Schlosses klang wie das Zuschnappen einer Mausefalle. Der Bückling war kreidebleich geworden. Er schlotterte am ganzen Körper. Nox trat einen drohenden Schritt auf ihn zu. | ||
+ | „Wie lange arbeitet sie tatsächlich schon hier?“, wollte er wissen. | ||
+ | „Radek, es ist nicht so, wie du denkst“, begann sein Partner und hob abwehrend die Hände. | ||
+ | „Falsche Antwort“, sagte Nox, zog bedächtig langsam seine Waffe und schoss einen Betäubungspfeil ab. Ein leises „Plopp“ ertönte. Das weiße Plastikröhrchen, | ||
+ | Er gab einen erschrockenen Schmerzensschrei von sich, riss die Nadel aus seiner Schulter und starrte den Killer mit Todesangst an. Seine Augen quollen noch mehr hervor, als sie es ohnehin schon taten. | ||
+ | „Was ist das?“ Seine Stimme kippte hysterisch. | ||
+ | „Ein lähmendes Gift“, erklärte Nox bereitwillig, | ||
+ | „Das kannst du doch nicht machen, Radek, wir sind doch Partner“, bettelte der Bückling. | ||
+ | „Du verschwendet deine Zeit. Ich bin sicher, dein kleines Busenwunder ist jeden Moment wieder zurück, weil ihr eingefallen ist, dass sie ihre Sachen vergessen hat“, Nox lächelte sardonisch. | ||
+ | Dem kleinen Mann schienen die Augen aus den Höhlen fallen zu wollen, er sackte in die Knie und atmete schwer. Das Gift entfaltete bereits seine lähmende Wirkung und bereitete ihm sichtliche Probleme. | ||
+ | „Sie weiß nichts. Bitte, sie war nur ein Zeitvertreib, | ||
+ | „Bevor du bewusstlos wirst, hätte ich gerne noch die Details deiner Wette gewusst und die Namen der Interessenten, | ||
+ | Sein Partner verfolgte dies mit Panik in den grotesk hervorstehenden Augen, er hustete, das Atmen fiel ihm immer schwerer. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. | ||
+ | „Auf meinem Rechner findest du alles, was du wissen musst. Ich hatte die Daten schon vorbereitet, | ||
+ | Nox antwortete nicht, sah ihm ernst in die Augen und lud die Waffe durch. Schweißperlen tropften von der Stirn des Bücklings, während er langsam immer weiter nach vorne sackte. | ||
+ | „Ich will nicht sterben, bitte, Radek. Wir sind doch Freunde“, röchelte er undeutlich. | ||
+ | „Du bist entlassen“, | ||
+ | Sein Partner wollte noch etwas sagen, aber es ging in einem heiseren Röcheln unter, als er mit dem Gesicht im Teppich in einer verkrümmten, | ||
+ | Der Killer verharrte neben der Tür und wartete. | ||
+ | Einige Minuten verstrichen, | ||
+ | „Wenn du atmen willst, hörst du mir zu und bist still. Du siehst, dass ich grade meinen Partner entlassen habe. Das sollte dir die Ernsthaftigkeit deiner Lage verdeutlichen“, | ||
+ | Sie zuckte zusammen und der Killer knurrte begeistert. | ||
+ | Langsam ging ihr die Luft aus und sie begann zu weinen. Nox erlaubte ihr einen einzelnen Atemzug, den sie gierig in die Lungen saugte, bevor er weiter sprach: „Ich will wissen, wie lange du hier arbeitest, wie viel er dir bezahlt hat, was du über unser Tätigkeitsfeld weißt, und wenn es noch andere relevante Dinge gibt, die ich jetzt nicht genannt habe, dann will ich sie auch wissen.“ | ||
+ | Sie nickte heftig, der eine Atemzug war schon verbraucht. | ||
+ | Nox gab sie frei und stieß sie zu Boden, das Mädchen hustete und japste nach Luft. Sie war schlau genug, nicht zu schreien, aber sie schluchzte hemmungslos, | ||
+ | „Rede“, forderte Nox scharf. | ||
+ | Ihr Blick irrte durch den Raum und verharrte auf den Stiefeln des Killers. | ||
+ | „Ich“, begann sie zaghaft, „Ich habe doch nur meine Tasche vergessen“, | ||
+ | „Beantworte meine Fragen, oder muss ich noch deutlicher werden?“ | ||
+ | „Nein! Es tut mir leid, bitte bestrafen Sie mich nicht! Ich gebe ja zu, dass ich den Code geknackt habe.“ Sie hielt schützend die Arme über den Kopf, als erwarte sie Schläge auf das Geständnis. | ||
+ | Nox zog gedanklich eine Augenbraue in die Höhe. | ||
+ | „Was soll das heißen: „ausversehen den Code geknackt“? | ||
+ | „Ich habe versucht die Registernummerierung auswendig zu lernen und dabei sind mir Unregelmäßigkeiten aufgefallen. Ich habe die Akten untersucht und festgestellt, | ||
+ | Nox ließ sich neben ihr auf ein Knie nieder und legte eine Hand auf ihre Schulter. Sie fuhr unter der Berührung zusammen, als habe er ihr Gewalt angetan. Sein Gesicht war dem ihren sehr nah, als er weitersprach: | ||
+ | Sie versteifte sich, hielt inne und blickte starr auf den bordeauxroten Teppich. Nox sog scharf die Luft ein. | ||
+ | „Ich kann also davon ausgehen, dass du weißt, welchem Zweck diese Kanzlei eigentlich dient“, stellte er fest. Das Mädchen antwortete nicht, stattdessen schloss sie die Augen und ließ den Kopf hängen. | ||
+ | „Es tut mir leid“, hauchte sie. | ||
+ | Nox ignorierte ihre Entschuldigung: | ||
+ | „Sechs Monate, drei Wochen, einen Tag und heute“, antwortete sie tonlos, „Ich habe kein Geld für die Arbeit bekommen.“ | ||
+ | „Was weißt du über die Wette?“ | ||
+ | „Herr Mehlkorn hat einen fünfstelligen Betrag darauf gesetzt, dass Sie-“, sie geriet ins Stocken und begann wieder zu stottern, „ Er hat gegen Sie gewettet.“ | ||
+ | Nox lachte kurz und gehässig. | ||
+ | Unter dem Geräusch zuckte das Mädchen erneut zusammen. | ||
+ | „Was weißt du über die Interessenten? | ||
+ | „Es sind drei Männer aus Ihrem Gewerbe, die für ihre Brutalität und Rücksichtslosigkeit bekannt sind. Die Namen habe ich nicht mitbekommen, | ||
+ | Der Killer bedachte sie mit einem abschätzigen Blick. | ||
+ | „Was ist mit den Unterlagen auf dem Tisch?“ | ||
+ | „Herr Mehlkorn wollte, dass ich die verjährten Fälle schreddere, aber wir waren mit der Sichtung des Archivs noch nicht fertig.“ | ||
+ | „Interessant. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir in den letzten Jahren schon mal alte Fälle vernichtet hätten. Wieso also jetzt?“ | ||
+ | „Ich weiß es nicht. Er hat mir nie viel gesagt, ich habe immer nur getan, was mir aufgetragen wurde, bitte glauben Sie mir!“ | ||
+ | „Wie alt sind Sie?“ | ||
+ | „Siebzehn.“ | ||
+ | „Wie sind Ihre familiären Verhältnisse? | ||
+ | „Ich habe keine Familie, Herr Mehlkorn war mein Gönner. Ich wohne seit drei Jahren bei ihm.“ | ||
+ | Nox lächelte dünn. | ||
+ | „Glauben Sie, dass sie in der Lage sind, dieses Chaos aufzuräumen? | ||
+ | Sie hob den Kopf und blickte den Killer aus großen, verheulten Augen an. „Ja“, sagte sie verwirrt. | ||
+ | Nox stand auf, trat an die Leiche heran und zog ihr das Smartphone aus der Hosentasche. Der Kopf des leblosen Körpers sackte zur Seite, die glasigen Augen starrten das Mädchen plötzlich vorwurfsvoll an. | ||
+ | Sie wandte schnell den Blick ab. | ||
+ | „Ich will die Akte des letzten noch nicht abgeschlossenen Falls haben, die Dummys schaffen Sie zu dem Bückling nach Hause, die echten Fälle in meinen Vito. Sie haben 48 Stunden Zeit.“ Er warf ihr das Smartphone zu. Sie griff ins Leere und klaubte das Telefon vom Boden. | ||
+ | „Sie kennen meine Rufnummer? | ||
+ | Sie nickte zögerlich, stand endlich auf, wischte sich das Gesicht trocken und versuchte zuversichtlich auszusehen. Nox hielt ihr den Autoschlüssel hin, aber als sie danach griff, packte er ihre Hand und zog sie zu sich heran. | ||
+ | „Damit wir uns verstehen: Sie sind auf Probe eingestellt. Ich habe Zugriff auf den GPS-Sender des Telefons. Wenn Sie nicht beim dritten Freizeichen abheben, oder das GPS Sie in einem Bereich ortet, wo Sie nichts zu suchen haben, dann werde ich Sie töten. Langsam und qualvoll, nicht schnell und schmerzlos wie meinen ehemaligen Partner.“ | ||
+ | Das Mädchen erbleichte. | ||
+ | Nox wandte sich ab und steuerte den Schreibtisch des Bücklings an. | ||
+ | „Was stehen Sie da herum, wo bleibt die Akte?“ | ||
+ | Sie fuhr zusammen wie ein geprügelter Hund und beeilte sich die Fall-Akte aus dem hintersten Regal zu suchen. Nachdem sie die Mappe zum Schreibtisch gebracht hatte, stand sie einen Moment lang unschlüssig daneben. | ||
+ | „Die Zeit läuft nicht rückwärts, | ||
+ | Sie schluckte schwer. | ||
+ | „Wollen Sie mich nicht? Ich meine, so, wie Herr Mehlkorn? | ||
+ | Nox blickte auf, in seinen Augen blitzte es kurz. | ||
+ | Sein Blick wanderte über den zierlichen, wohl proportionierten Körper des Mädchens, blieb an der üppigen Oberweite hängen, dann schüttelte er den Kopf. „Nein Linda, Sie würden zerbrechen“, | ||
+ | Ihre Augen weiteten sich, als sie begriff. | ||
+ | Sie fuhr herum, unschlüssig, | ||
+ | Nox wandte sich dem Schreibtisch zu. Er durchsuchte die einzelnen Fächer und Schubladen sorgfältig, | ||
+ | Der Bückling hatte sich zu lange zu sicher gefühlt, sich an die Routine gewöhnt und die gebotene Vorsicht vergessen. Es war gut, dass Nox ihn entlassen hatte, bevor ihm noch ein wirklich gravierender Fehler unterlaufen war. | ||
+ | Ein einzelner, weißer Notizblock lag in dem Fach. An den Seiten quollen lose Zettel heraus. Der Killer studierte die Aufzeichnungen und lächelte abfällig. Sein ehemaliger Partner hatte 98500 Euro darauf gewettet, dass Nox sich an Irina die Zähne ausbeißen würde. Der glatzköpfige Händler hatte das Gebot entgegen genommen und eine Quittung ausgestellt. | ||
+ | Nox hätte gerne mehr über die anderen Bieter der Wette erfahren, doch darüber gab die Quittung keine Auskunft. | ||
+ | Die Liste mit den Namen seiner Konkurrenten würdigte er nur eines flüchtigen Blickes. Das Busenwunder hatte nicht gelogen, die Kandidaten waren ihm bekannt, doch sie genossen in der Szene einen zweifelhaften Ruf als Maulhelden, obwohl sie ihr Handwerk im Grunde passabel auszuführen wussten. | ||
+ | Die Transaktionen, | ||
+ | Nox lächelte dünn, als er die Beträge aufaddierte. Sein ehemaliger Partner hätte sich schon vor Jahren absetzen können, aber er war zu gierig geworden und hatte dadurch seine Chance auf ein Leben in Luxus und Dekadenz verpasst. | ||
+ | Mit Geld verhielt es sich ähnlich wie mit dem Erfolg, es stieg den Menschen zu Kopf und je mehr sie davon hatten, desto schlimmer quälte sie das Verlangen nach mehr. | ||
+ | Für Nox war Geld nur ein lästiges Tauschgut, das man besitzen musste, um zu bekommen, was man wollte. In seinem Fall beschränkte sich dies auf die Ausrüstungsgestände für die Arbeit, oder damit verbundene Zerstreuung, | ||
+ | Immerhin war nun auch klar, weshalb sein ehemaliger Partner die alten Akten hatte vernichten wollen. | ||
+ | Er war offenbar davon ausgegangen, | ||
+ | Diesen Teil hatte das Busenwunder nicht entdeckt. | ||
+ | Dennoch war es bemerkenswert, | ||
+ | Die Tatsache, dass der Bückling dies übersehen hatte, bestätigte nur seine allgemeine Nachlässigkeit, | ||
+ | Das Geräusch fallender Unterlagen, gefolgt von einem unterdrückten Schluchzen, riss Nox aus seinen Gedanken. | ||
+ | Er durchquerte den Raum und fand Linda im Gang zwischen zwei Regalreihen auf dem Boden hockend, umgeben von einem unordentlichen Haufen Akten, die ihr wohl herunter gefallen waren. | ||
+ | Sie hatte das Gesicht in den Händen vergraben und weinte. Als sie den Killer bemerkte, starrte sie ihm zitternd und mit leerem Blick entgegen. Er trat näher und bot ihr eine Hand an, um ihr aufzuhelfen. Sie rührte sich nicht. „Ich kann mich nicht mehr erinnern“, | ||
+ | Nox schenkte ihr ein sanftes Lächeln. „Stehen Sie erst einmal auf, schön. Sie haben einen Black-Out, das ist nicht verwunderlich. Ich habe Ihren Ernährer umgebracht, Sie bedroht und ein Ultimatum gestellt. Da sind vorübergehende Gedächtnislücken normal. Schließen Sie die Augen und atmen Sie tief durch.“ | ||
+ | Sie folgte der Aufforderung, | ||
+ | „Woran erinnern Sie sich noch von dem Tag, an dem Sie das System durchschaut haben?“ | ||
+ | „An dem Tag gab es einen Sturm. Der Regen trommelte richtig laut gegen das Fenster, und ich hatte mir eine Tasse Kakao gekocht, weil die Heizung gewartet wurde und ausgeschaltet worden war.“ | ||
+ | „Erzählen Sie weiter.“ | ||
+ | „Herr Mehlkorn hatte neue Regale bestellt. Ich sollte die Akten sortieren und mit dem elektronischen Archiv abgleichen, eine Art Inventur. Dabei habe ich versucht, die Fälle zu studieren, weil ich hoffte, dass er mich irgendwann als Sekretärin einstellen würde. | ||
+ | Dann hätte ich echtes Geld verdienen können, und ich hätte nicht immer fragen müssen, wenn ich etwas brauchte. | ||
+ | Aber manche Daten im Rechner passten nicht zu den Angaben auf den Papieren. Ich war verwirrt, ließ mir aber nichts anmerken, weil ich Angst hatte, dass Herr Mehlkorn mit mir schimpfen könnte. Er hat oft zu mir gesagt, dass ich dumm und naiv sei und ohne ihn niemals alleine in der Welt zurecht käme“, sie holte stockend Luft, bevor sie weitersprach, | ||
+ | „Ihre analytischen Fähigkeiten sind offenbar hervorragend, | ||
+ | Bei dem Lob hielt das Mädchen perplex inne, vergaß zu weinen, senkte schniefend und verlegen den Blick. | ||
+ | „Drucken Sie sich eine Liste aus und machen Sie weiter“, Nox klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter, „Ich habe etwas zu erledigen, rufen Sie mich an, wenn ein Problem auftritt.“ | ||
+ | „Was ist mit Herrn Mehlkorn? Also mit der Leiche?“, fragte sie zaghaft. Der Gedanke, alleine mit einem toten Menschen in einem Raum zu sein, schien ihr Angst zu machen. | ||
+ | „Darum wird sich jemand anderes kümmern“, | ||
+ | Er wählte die Treppe und stieg drei Stockwerke nach oben, bis er das Dach erreichte. Im Windschatten eines Vorbaus zückte er sein Smartphone und wählte die Privatnummer des Händlers. | ||
+ | Es dauerte sechs lange Freizeichen, | ||
+ | „Herr Meyer mit y, hoffe ich doch?“ sagte Nox gedehnt. | ||
+ | Jemand räusperte sich. | ||
+ | „Radek, mein Lieber, wie geht es dir?“ die Stimme des Händlers schwankte vor lauter Nervosität. | ||
+ | „Ich habe von deiner Wette gehört und würde mich gerne beteiligen.“ | ||
+ | „Die Wette? Oh, die ist nicht von mir. Also, ich habe zwar die Gebote entgegen genommen, aber ich wurde von den Initiatoren gefragt, weil ich doch in der Vergangenheit schon häufiger Wetten ausgerichtet habe“, er hüstelte verlegen. | ||
+ | „Aber natürlich doch, ich würde dir niemals etwas anderes unterstellen“, | ||
+ | Am anderen Ende der Leitung machte sich Erleichterung breit. | ||
+ | „Ach Thaddy, ja, ich habe ihn gewarnt, das war nicht grade höflich, gegen den eigenen Partner zu wetten“, der Händler fasste sich allmählich. | ||
+ | „Ich musste ihn entlassen“, | ||
+ | „Tatsächlich? | ||
+ | „Es gab diverse Gründe“, verriet der Killer mit einem wohl überlegten Zögern in der Stimme, dann gab er ihr einen geschäftstüchtigen Klang, „Ich benötige eine Abholung und eine Lieferung, die Bestellliste schicke ich im Anschluss.“ | ||
+ | „Selbstverständlich, | ||
+ | „Das freut mich zu hören.“ | ||
+ | „Also eine Abholung und eine Lieferung? Wie lautet die Adresse?“ | ||
+ | „Beides in der Kanzlei.“ | ||
+ | Der Händler schwieg einen Moment, er schien begriffen zu haben, was es mit der „Entlassung“ auf sich hatte. | ||
+ | „Schön, ich schicke umgehend jemanden vorbei“, er räusperte sich erneut, seine Stimme klang belegt. Nox kostete den Gedanken voll aus, dass der Händler seinen ehemaligen Partner gemocht hatte. | ||
+ | In den nächsten Wochen würde sein Gesprächspartner die ganze Szene von der „Entlassung“ unterrichten und ein abschreckendes Beispiel für die Konkurrenz liefern. Der Killer musste keinen Finger dafür rühren, um die Geschichte in Umlauf zu bringen. | ||
+ | Die Verabschiedung fiel äußerst knapp aus, Nox lauschte auf das Geräusch der unterbrochenen Leitung, bevor er die Bestellung aus dem Kopf notierte und abschickte. Anschließend trat er an den Rand des Daches, legte die Arme auf die Brüstung und blickte in die Tiefe. | ||
+ | Mit dem Busenwunder würde er sich noch eingehend befassen müssen, bevor er sich sicher war, dass sie nach seinen Vorstellungen arbeitete. Im Grunde kam es ihm sehr gelegen, dass sein ehemaliger Partner schon eine Nachfolgerin angeschleppt hatte. Wenn sie nicht durch reinen Zufall hinter das System gekommen war, dann besaß sie eine seltene Gabe, die er fördern und ausschöpfen konnte. Er würde ihr auftragen, ein neues, sichereres System zu entwerfen. | ||
+ | Doch zuvor musste sie sich beweisen. Das Mädchen hatte offensichtlich ein leichtes Stockholm-Syndrom entwickelt, während der Bückling sie in seiner Gewalt gehabt hatte, doch es war nicht ausgeprägt genug, dass sie ihren Entführer vergötterte, | ||
+ | Nox konnte sich das zunutze machen. Eine bereits vorhandene Abhängigkeit war leicht auf eine andere Person übertragbar. In den nächsten Monaten galt es, aus dem Busenwunder eine vertrauenswürdige Assistentin zu formen. So konnte er sich die Zeit vertreiben, bis er Irina aus ihrem Versteck lockte. Dieser Begegnung fieberte er inzwischen regelrecht entgegen. Er musste sich zügeln, um nicht nachlässig zu werden. Geduld war das Gebot der Stunde, obwohl er sich schon sehr lange geduldete und er auf absehbare Zeit seine Grenzen erreichte. Hoffentlich überspannte Irina den Bogen nicht, sonst könnte er für nichts mehr garantieren. | ||
+ | Das Telefon klingelte. | ||
+ | Überrascht blickte er auf die Nummer. Die Probleme kamen schnell. | ||
+ | „Was gibt es?“ | ||
+ | „Hallo, Herr Wolf?“, stammelte das Busenwunder am anderen Ende. | ||
+ | „Sprechen Sie mich mit Radek an“, korrigierte Nox. | ||
+ | „Entschuldigung, | ||
+ | „Das werden wir ändern müssen, schätze ich“, entgegnete Nox geduldig, „Wenn sie die Fälle sortiert haben, begleite ich Sie. Melden Sie sich dann wieder.“ | ||
+ | „Okay, ist gut, mach ich.“ | ||
+ | Nox legte auf. | ||
+ | Da wartete wirklich viel Arbeit auf ihn. In Gedanken erstellte er eine Liste der Dinge, die es zu erledigen galt: Arbeitsvertrag, | ||
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+ | ~ | ||
+ | |||
+ | Die Glocken, die seit Monaten Irinas Leben bestimmten, dröhnten laut über das Klostergelände. Schlaftrunken krabbelte sie aus dem Bett und kleidete sich an. Die Tage waren nicht mehr einförmig und regelmäßig, | ||
+ | Das zweite Trimester wurde seinem Ruf gerecht, die Beschwerden vom Beginn der Schwangerschaft waren vollends verschwunden, | ||
+ | Wenn sie den Vormittag mit Gartenarbeit hinter sich gebracht hätte, würde sie ihr Training fortsetzen. | ||
+ | Am Schießstand hatte Irina nur kurz üben können, solange das Baby noch keine funktionierenden Hörorgane besessen hatte. | ||
+ | Das erste Mal hatte sie sich vor dem ungewohnten Rückstoß und dem Lärm des Schusses erschrocken, | ||
+ | Auf Nahkampftraining verzichtete Irina aus demselben Grund. | ||
+ | Miryam bedauerte diese Einschränkung sehr, in ihren Augen war dies ein furchtbarer Nachteil, doch für Irina war die Vorstellung, | ||
+ | Ihre einzige Hoffnung bestand darin, den Killer zu erschießen. Irina wusch sich in dem kleinen Waschbecken das Gesicht. Dort, wo normalerweise ein Spiegel angebracht war, hingen jetzt zwei Ultraschallbilder, | ||
+ | Die Hebamme hatte sie zu einer vertrauenswürdigen Gynäkologin begleitet, die den Schwangerschaftsfortschritt begutachtet hatte. | ||
+ | Alles verlief bestens. Irina hatte ihre anfänglichen Ängste und Zweifel weitestgehend besiegt und jetzt genoss sie die Schwangerschaft, | ||
+ | Sie hoffte, dass das Kind gesund zur Welt kam, dass sie vielleicht noch ein paar Tage mit ihrem Sohn verbringen konnte, bevor sie ihn weggeben musste. | ||
+ | Wenn ihre Gedanken bei dem Kind verweilten, begann sie unbewusst sanft zu lächeln, und ihre Augen nahmen einen verträumten Ausdruck an. | ||
+ | Der kurze Spaziergang zur Kirche wurde begleitet von vielstimmigem Vogelgezwitscher. Sie hatte mittlerweile die einzelnen Stimmen auseinanderzuhalten gelernt, erkannte einen Buchfink, der seine Fanfare von einer Regenrinne schmetterte, | ||
+ | Im Ziergarten konkurrierten Dahlien und Gladiolen mit farbenprächtigen Blüten um die Aufmerksamkeit des Auges, die Luft war erfüllt von den verschiedenen Gerüchen des blühenden Grüns, die gemeinsam zu einer betörenden Komposition verschmolzen. | ||
+ | Sie langweilte sich durch die Morgenandacht und den Vormittag, der kein Ende nehmen wollte, während der Nachmittag mit Miryam wie im Flug verging. Das Training bestand aus verschiedenen Übungen, die die Aufmerksamkeit schärfen sollte, Irina bekam ein Bild gezeigt und musste sich in wenigen Sekunden so viele Details wie möglich merken und aufzählen können. Nebenbei teilte Miryam viele Erfahrungswerte mit ihr. Was musste man bei einer Observierung beachten? Wie brach man in ein Haus ein? Welche Technik nutzte man, um seine Spuren im Gelände zu verwischen? Irina gewann zunehmend Selbstvertrauen. Sie mochte keine gute Schützin sein, doch in den anderen Disziplinen entdeckte sie so etwas wie ein verborgenes Talent. | ||
+ | Sie konnte in wenigen Sekunden die Frau mit dem blauen Hut in einem Wimmelbild finden und es gelang ihr präzise, beim Betreten eines Raumes die Anwesenheit eines anderen Menschen zu fühlen. Als intuitiver und empathischer Mensch waren ihre Sinne in diesem Bereich bereits von Natur aus ungewöhnlich scharf. Jetzt lernte sie diese Fähigkeit gezielt zu nutzen und weiterzuentwickeln. Miryam zeigte sich ein ums andere Mal beeindruckt. | ||
+ | Nach dem Abendbrot trafen die beiden Frauen sich zu einem Spaziergang. Irina hatte einen kleinen Pfad entdeckt, der einmal um das ganze Klostergelände herum führte. | ||
+ | Eine Frage beschäftigte sie seit Tagen, doch aus Respekt und Höflichkeit hatte sie sie bis jetzt zurückgehalten: | ||
+ | „Wie kommt es, dass dir der Name meines Killers geläufig ist?“ | ||
+ | Miryam grinste. „Ich habe mich schon gefragt, wann du diese Frage stellst. Nun ja, ich habe lange Zeit als Söldner gearbeitet, da gibt es gewisse Überschneidungen. Die Grenze zwischen einem Söldner und einem freiberuflichen Auftragsmörder ist nahezu fließend, manche wechseln permanent zwischen den beiden Bereichen hin und her. So trifft man alle möglichen „Kollegen“, | ||
+ | „Was für Geschichten waren das?“, bohrte Irina weiter. | ||
+ | „Oh, es gab viele“, antwortete Miryam ausweichend, | ||
+ | Irina schauderte. Sie dachte an ihre eigenen Erfahrungen mit dem Killer und stellte sich vor, dass dieser nun möglicherweise das erste Mal im Laufe seiner Karriere einen Auftrag nicht zufriedenstellend erledigt hatte, weil sie ihm entkommen war. | ||
+ | Wie besessen musste er von der Vorstellung sein, diesen Makel zu bereinigen, um seinen unfehlbaren Ruf wieder herzustellen? | ||
+ | Was würde er mit ihr anstellen, wenn er sie doch noch zu fassen bekam? | ||
+ | Sie zog die Stirn in Falten. Von dieser Vorstellung versuchte sie sich grade zu trennen. Sie sollte sich viel mehr fragen, was sie mit dem Killer anstellen würde, wenn sie ihm endlich alles heimzahlen konnte. | ||
+ | Irina blieb stehen. Das Kind in ihrem Bauch bewegte sich. | ||
+ | „Er tritt mich“, sagte sie lächelnd, ihre Augen glänzten dabei, sie fasste nach Miryams Hand und legte sie auf die Stelle, wo der Kleine sich bemerkbar machte. | ||
+ | Miryam kicherte, bis Irina unter einem heftigen Tritt zusammenfuhr: | ||
+ | „Bist du sicher? Vielleicht wird er auch ein Fußballer.“ | ||
+ | „Bei dem Vater sicher nicht.“ | ||
+ | Miryam brach in schallendes Gelächter aus, bis ihre Augenwinkel feucht wurden. „Wenn man dich so reden hört, würde man kaum vermuten, dass der Vater mehr als nur ein gewöhnliches Arschloch sein könnte!“ | ||
+ | „Wenn er so berühmt und berüchtigt ist, muss ihn doch langsam mal jemand auf den Teppich holen“, grinste Irina. | ||
+ | Miryam verdrehte lachend die Augen. | ||
+ | „In Wirklichkeit wird der kleine Wirbelwind bestimmt Beamter, Lehrer, oder Finanzberater“, | ||
+ | Miryam verzog das Gesicht, als habe sie auf eine Zitrone gebissen: „Na, irgendwie muss man ja gegen die Eltern rebellieren.“ | ||
+ | „Magst du auch keine Schlager? | ||
+ | „Ich bitte dich, einige Künstler und ihre Werke sollten von der Genfer Konvention verboten werden. Es würde mich nicht wundern, wenn der Name des Genres aus einem Verwendungszweck im Bereich der Folter stammt.“ | ||
+ | Irina prustete vor Lachen, als sich das vorzustellen versuchte: „Bei der Obduktion der Leiche wurde eindeutig festgestellt, | ||
+ | Miryam kicherte zustimmend: „Lieber gehe ich auf eines dieser todlangweiligen IT-Symposien, | ||
+ | Bei dem Stichwort „IT“ klingelte etwas bei Irina, sie spürte dem Gefühl nach und plötzlich fiel ihr siedend heiß ein, dass sie etwas sehr Wichtiges vergessen hatte. | ||
+ | „Sag mal, hast du Ahnung von Technik?“ | ||
+ | „Ein wenig, wieso? Ist nicht wirklich mein Fall, aber der ein oder andere Trick ist mir geläufig.“ | ||
+ | „Damals, während meiner Flucht, habe ich Nox‘ Laptop geklaut, aber ich trau mich nicht ihn einzuschalten. Hab ganz vergessen, dass er noch existiert. Die Aufregung mit der Schwangerschaft und so, da ist es mir einfach entfallen.“ | ||
+ | Miryam blieb perplex stehen. | ||
+ | „Du hütest seit Monaten den Laptop deines Auftragsmörders und vergisst das einfach? Mensch, dir ist wirklich nicht mehr zu helfen. Wer weiß, ob die Informationen überhaupt noch zu gebrauchen sind.“ | ||
+ | Irina wurde verlegen. „Naja, aus den Augen, aus dem Sinn.“ | ||
+ | Ihre lahme Ausrede wurde mit einem Kopfschütteln quittiert. | ||
+ | „Unglaublich!“ | ||
+ | „Dankeschön.“ | ||
+ | „Das war kein Kompliment.“ | ||
+ | „Wirklich nicht?“ | ||
+ | „Hoffentlich kann man da noch verwertbare Daten abrufen.“ | ||
+ | „Ich hoffe ja eigentlich, dass ich den Namen des Auftraggebers herausfinden kann. Mit dem würde ich mich gerne mal unterhalten.“ | ||
+ | „Nur unterhalten? | ||
+ | „Ich hatte Angst, dass mir der Laptop um die Ohren fliegt, oder sonst etwas Blödes passiert, wenn ich ihn einschalte. Da hab ich die Sache erst mal verdrängt, damit ich nicht doch noch meiner Neugier erliege“, gestand Irina mit ernster Stimme. | ||
+ | Schlagartig wurde auch Miryam wieder ernst: „Das ist gar nicht so abwegig, ich bin sicher, du hast richtig gehandelt. Wir sollten einige Vorsichtsmaßnahmen treffen, bevor wir uns das heiße Stück Technik vornehmen.“ Dann machte sie ein Geräusch, das ihre Fassungslosigkeit wiederspiegelte: | ||
+ | „Nein“, überlegte Irina gedehnt, „Ich bin davon überzeugt, dass er immer noch nicht aufgegeben hat. Was auch immer wir auf dem Laptop finden werden, es wird bestimmt eine Falle sein.“ | ||
+ | „Nach so langer Zeit?“, Miryam runzelte die Stirn, „Glaubst du, dass er derart besessen von dir ist?“ | ||
+ | „Von Glauben kann keine Rede sein. Er hat es bereits bewiesen“, | ||
+ | „Wir müssen uns gegen alle Eventualitäten absichern. Gib mir den Laptop, dann lasse ich das Gerät röntgen, um versteckte Sprengsätze auszuschließen. Danach kümmere ich mich um einen Experten. Es gibt da noch ein paar Leute, die mir einen Gefallen schulden, aber es kann dauern, denn sie sind erstens immer ausgebucht und hassen es zweitens zu reisen.“ Es dauerte ein paar Tage länger als erwartet, bis Miryam den Laptop für unbedenklich erklärte. Irina hatte in der Zwischenzeit einen Ort auf dem Klostergelände gefunden, der für die „Operation Laptop“ geeignet war. Die Nonnen erlaubten ihr, eine ungenutzte Nische in den Gewölben unter der Kirche für diesen Zweck mit Licht und Strom auszustatten. Die dicken Sandsteinmauern schirmten alle Funknetze ab, mit denen sich das Gerät verbinden könnte. Dort unten herrschte absolute Funkstille, was Irina irgendwie passend fand, für eine Katakombe, die im hinteren Teil die sterblichen Überreste vergangener Klosterbewohnerinnen beherbergte. | ||
+ | Während Miryam ihre Kontakte anschrieb, wurde Irina langsam wieder richtig nervös, die Neugier wuchs ins Unerträgliche, | ||
+ | Der Wunsch nach Aufklärung brannte heiß auf ihrer Seele und warf zischende Blasen, während sie sich immer wieder ermahnte, dass sie zuerst an Nox vorbei müsste, um an den Auftraggeber zu gelangen. | ||
+ | Wenn sie es auf sich beruhen lassen könnte, hätte sie die Chance auf ein normales Leben. Es könnte doch alles wie früher werden, sie könnte sich eine neue Wohnung suchen, irgendwo, weit weg, wo der Killer sie nicht finden würde, vielleicht müsste sie noch eine Weile warten, bis er aufgab, doch danach stand ihr die Welt wieder offen. | ||
+ | In diesem Fall müsste sie natürlich damit leben, niemals erfahren zu haben, warum ein fremder Mensch sie ermorden lassen wollte. | ||
+ | Was wäre, wenn er einfach einen neuen Auftragsmörder anheuerte, weil Nox versagt hatte? Für ihre Zukunft und ihren Seelenfrieden brauchte Irina Gewissheit. | ||
+ | Aber Nox und der anonyme Mistkerl im Hintergrund waren Teil desselben Problems. Mit jedem Tag, an dem Irina trainierte, wuchs in ihr das Verlangen nach einer Revanche. Auch wenn es bedeutete, dass sie sich in Lebensgefahr begab und mit großer Wahrscheinlichkeit sterben würde, wenn sie erneut auf den Killer traf, konnte sie sich nicht einfach aus dem Staub machen und vorgeben, alles sei in Ordnung. | ||
+ | Solange diese Sache nicht geklärt war, konnte sie sich unmöglich der Illusion von einem Neubeginn hingeben. | ||
+ | Wenn sie nun ihren wachsenden Bauch betrachtete, | ||
+ | Aber das Leben hatte ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht, jetzt war sie schwanger von einem Fremden, der ihr nichts als Leid zugefügt und ihr eine unauslöschbare Angst eingepflanzt hatte, sodass sie sich nicht in der Lage fühlte, dieses Kind so zu lieben, wie es das verdient hatte. | ||
+ | Die Adoption war die einzige Möglichkeit, | ||
+ | Wieder kämpfte Irina mit ihrem Gewissen. | ||
+ | Der kleine Junge in ihrem Bauch war ihr schon ans Herz gewachsen. Mit jedem Tritt, den er ihr verpasste, gleichsam zum Beweis, dass er sich durch das Leben kämpfen würde, fühlte sie wachsende Zuneigung in sich aufsteigen. | ||
+ | |||
+ | Der Sommer hielt Einzug und das anfänglich schöne Wetter entwickelte sich zu einer Hitzewelle, die schließlich in eine anhaltende Dürre überging. | ||
+ | Die Sonne dörrte den Boden aus, der hart und rissig wurde, die Blumen im Ziergarten verwelkten, die Beete, die den Lebensunterhalt des Klosters darstellten, | ||
+ | Die Vögel verstummten fast gänzlich, bis auf sporadisches, | ||
+ | |||
+ | Irinas Bauch wuchs immer weiter, wurde kugelig und schwer. | ||
+ | Das zweite Trimester neigte sich dem Ende entgegen, der kleine Wirbelwind drückte nun häufig auf ihre Blase und schickte sie immer wieder umsonst zur Toilette. | ||
+ | Zusätzlich litt sie unter geschwollenen Armen und Beinen, im Grunde eine typische Schwangerschaftsbeschwerde, | ||
+ | Das kühle Gewölbe hätte sie vorgezogen, doch der Hacker, den Miryam aufgetrieben hatte, legte eine so ausgeprägte Verschrobenheit an den Tag, dass er nur unter sehr sonderbaren Bedingungen bereit gewesen war, sich des Falls anzunehmen. | ||
+ | Außer ihm durfte niemand das Gewölbe betreten, er arbeitete allein, nicht mal Miryam durfte sich in seiner Nähe aufhalten, wenn er sich mit dem Laptop beschäftigte. Obendrein hatte er eine stattliche Summe Geld verlangt, die Irina im Voraus hatte zahlen müssen. Von dem Geld des Killers war nicht mehr viel übrig. Sie hoffte, dass der IT-Spezialist bald einen Fortschritt vermelden konnte, denn sie wurde allmählich wirklich ungeduldig. | ||
+ | Jedes Mal, wenn er sich ankündigte, | ||
+ | Irina hatte sich endlich an Dostojewskies „Schuld und Sühne“ gewagt und quälte sich durch die ellenlangen Gedankengänge des Protagonisten, | ||
+ | Überrascht musste sie feststellen, | ||
+ | Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab und wandten sich Nox zu. Sie malte sich aus, wie sie ihm gegenübertreten würde, die Jericho hob, zielte und das Böse aus ihrem Leben tilgte. Würde er überrascht sein, oder einen Anflug von Angst zeigen? Betteln würde er sicher nicht, das lag unter seiner Würde. Aber einen großspurigen Kommentar würde er sich bestimmt nicht verkneifen können. | ||
+ | Jedes Mal überkam sie ein Schaudern, wenn sie an dieser Stelle der Überlegung ankam. Sie durfte sich nicht von ihm verunsichern lassen, wenn es so weit war, doch sie fühlte immer noch eine entsetzliche Furcht, die sich nicht kontrollieren ließ. | ||
+ | Was auch immer geschah, ob sie nun siegreich aus der nächsten Begegnung hervor ging oder versagte und starb, das einzig Wichtige war, dass sie sich nicht verplapperte und die Existenz des Kindes verriet. Irina hegte ein so ausgeprägtes Misstrauen gegen Nox, das es fast an Aberglauben grenzte: Sie war irrationalerweise überzeugt davon, er könne überleben, wenn er von dem Kind erfuhr. Ihr war klar, dass keinerlei Kausalität zwischen diesen beiden Aspekten bestand, doch eine leise Stimme in ihrem Innern flüsterte beständig auf sie ein und nagte an ihr. | ||
+ | Sie seufzte. Es waren nur noch wenige Monate bis zum vorausberechneten Geburtstermin, | ||
+ | Die Schwierigkeit bestand darin, dies in einem Namen auszudrücken, | ||
+ | Ein Schatten legte sich über das aufgeschlagene Buch in Irinas Händen, sie erschrak, noch bevor Miryam hinter ihr: „Buh!“ rief. | ||
+ | Irina machte dem Schreck in einem schrillen Ausruf Luft. | ||
+ | „Eine schwangere Frau so zu erschrecken, | ||
+ | „Du warst unaufmerksam“, | ||
+ | „Oje“, seufzte Irina, „Ich könnte natürlich behaupten, ich hätte gewusst, dass du es bist. Würdest du das glauben?“ | ||
+ | „Natürlich nicht. Aber das ist jetzt auch nicht so wichtig, mein Bekannter hatte Erfolg“, sie grinste triumphierend, | ||
+ | „Endlich! Hilf mir auf! Der kleine Racker wird allmählich schwer. Erzähl schon, was ist damit? Kann er sie zurückverfolgen? | ||
+ | „Immer mit der Ruhe, du darfst dich doch nicht so aufregen, sonst könntest du vorzeitige Wehen bekommen“, | ||
+ | Irina überhörte die Spitze und bohrte weiter: „Haben wir eine Spur?“ | ||
+ | „Sie ist hauchdünn. Die Mails wurden an einen T. Mehlkorn von einer Rechtsanwaltskanzlei R. verschickt, aber das scheint ein Deckname zu sein. Morgen werden wir uns die Sache genauer ansehen.“ | ||
+ | „Wie kannst du das auf morgen vertagen, wenn wir endlich eine Spur haben?“ | ||
+ | „Nicht meine Schuld. Mein Bekannter hat noch einen anderen Job, der ihn in Beschlag nimmt, er opfert schon seine Freizeit für mich.“ | ||
+ | Irina versuchte sich die Aufregung und Enttäuschung nicht zu sehr anmerken zu lassen, aber Miryam war zu gut, um sich täuschen zu lassen. | ||
+ | „Stress dich nicht, du kannst ohnehin erst etwas unternehmen, | ||
+ | „Ja, schon“, gab Irina zu, „Aber ich warte nun so lange, dass ich es endlich hinter mich bringen will.“ | ||
+ | „Das ist verständlich, | ||
+ | „Der Name sagt mir gar nichts“, warf Irina ein, „Ich erinnere mich nicht an einen T. Mehlkorn.“ | ||
+ | „Das hat nichts zu bedeuten. Es kann eine Tarnung sein, oder ein Kontaktmann, | ||
+ | Irina seufzte. „Dann muss ich mich wohl weiterhin gedulden. Ich warte ja erst seit…“, sie überlegte kurz, dann lächelte sie, „Seit fast einem Jahr, seit Nox das erste Mal in meiner Wohnung auftauchte.“ | ||
+ | Der Witz konnte jedoch nicht die drängelnde Ungeduld überspielen, | ||
+ | |||
+ | ~ | ||
+ | |||
+ | Linda strahlte den Killer mit ihrer unvoreingenommenen Art an. | ||
+ | Sie hatte soeben die elektronische Barriere der Kameras umgangen, die Nox errichtet hatte, um ihr zu zeigen, wie man sich in ein Überwachungssystem hackte. Der Bildschirm zeigte das leere Büro der Kanzlei gestochen scharf und in Farbe. Die Regale waren ausgeräumt, | ||
+ | Einzig dieser Umstand hatte den Auftraggeber bisher vor einem Besuch des Killers bewahrt. Sollte Irina sich der Sache nicht annehmen, dann würde er es nachholen. Bis dahin behielt er seinen wichtigsten Trumpf auf der Hand. | ||
+ | Nox war begierig zu sehen, wie weit seine Klientin sich verändert hatte. Wie weit mochte er sie bei einer Begegnung wohl provozieren können? Fürchtete sie sich noch vor ihm, oder hatte sie die Vergangenheit verdrängt, mit der Absicht, Rache zu nehmen für die erlittenen Qualen? | ||
+ | Diese und ähnliche Fragen erfüllten ihn mit brennender Unruhe, beißender Neugier und einem weiteren, unterschwelligen Gefühl, das er nicht richtig zu fassen bekam, nicht einordnen konnte. | ||
+ | Er nickte seiner Assistentin in Ausbildung zu: „Schalte die Lichtschranke der Tür aus, ohne den Alarm auszulösen“, | ||
+ | Linda lernte schnell und vergaß kaum etwas, was Nox ihr einmal gesagt hatte. Einzig die nervöse Unsicherheit, | ||
+ | Nox hatte zuverlässig seine Liste abgearbeitet, | ||
+ | Die plötzliche Zuwendung hatte das junge Mädchen völlig überwältigt, | ||
+ | Ein weiterer Fehler, der seinem ehemaliger Partner unterlaufen war und Nox in die Hände spielte, denn der Bückling hatte keinen Wert darauf gelegt, seiner Gespielin den körperlichen Liebesakt als angenehme Erfahrung zu vermitteln. | ||
+ | Das Mädchen zerfloss geradezu vor Dankbarkeit und war bestrebt, sich das Lob des Killers zu verdienen, womit er wohlweislich geizte. | ||
+ | Mehr als ein zustimmendes Nicken gab es selten. | ||
+ | Nur ein einziges Mal hatte er ihr ein schlichtes „Gut gemacht!“ geschenkt, als sie die Wohnung ihres ehemaligen Gönners auf seine Anweisung hin in Brand gesteckt hatte und so alle falschen Akten und die Leiche in den Flammen vernichtet worden waren. | ||
+ | Tatsächlich hatte sie diese Aufgabe sogar exzellent erledigt, denn die Feuerwehr hatte nichts mehr retten können. Die Polizei ging von einem Unfall aus. | ||
+ | Linda war wirklich talentiert. Sie strengte sich an und machte schnell Fortschritte. Es war ihre Idee gewesen, den Kellerraum des Bürogebäudes für die Überwachung zu nutzen, mit dem Hintergedanken, | ||
+ | Jetzt gab es nur noch einen Tisch, an dem sie sich Laptop an Laptop gegenübersaßen und eine alte Matratze, die abwechselnd zum Schlaf genutzt wurde. Eine trübe, vergitterte Deckenlampe spendete ein Minimum an Licht. | ||
+ | Die schlechten Erinnerungen an diesen Raum schien das Mädchen schnell verdrängt zu haben. Sie wirkte völlig ausgeglichen. | ||
+ | Ihre Finger flogen über die Tastatur, während sie sich mit der Aufgabe abmühte. Das Geräusch wurde aggressiver. Der Algorithmus, | ||
+ | Plötzlich leuchtete eine rote Lampe über der Tür des Kellerraumes auf. | ||
+ | „Mist“, fluchte sie. Der Alarm war ausgelöst worden. | ||
+ | „Noch mal“, kommentierte Nox und stellte alles auf Anfang zurück. | ||
+ | Drei weitere Versuche scheiterten, | ||
+ | Nox war zufrieden und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück: „Was sagen Sie zu einer Kaffeepause? | ||
+ | „Sehr gerne, ich hätte auch ein wenig Hunger.“ | ||
+ | „Kaufen Sie sich etwas. Aber bleiben Sie nicht zu lange weg. Ich bereite die nächste Übung vor.“ | ||
+ | „Jawohl! Darf ich Ihnen etwas mitbringen? | ||
+ | „Nur den Kaffee, danke.“ | ||
+ | Linda sprang auf, schnappte sich ihre Tasche und rauschte glücklich aus dem Raum. | ||
+ | Nox veränderte einige Parameter des Sicherheitssystems, | ||
+ | Er wollte sich gerade erheben, um sich die Beine ein paar Schritte im Flur zu vertreten, als ein kleines Pop-Up-Fenster auf dem Bildschirm erschien: Eine Karte, auf der eine GPS- Ortung angezeigt wurde. | ||
+ | Nox hielt inne, beobachtete beinahe ungläubig, wie die Karte immer näher heranzoomte, | ||
+ | Der Ausschnitt war noch zu groß, um mit Sicherheit sagen zu können, von wo genau das Gerät sich eingewählt hatte, aber das war auch nicht notwendig. Irina streckte endlich ihre Fühler aus, bald würde sie der Spur aus Brotkrumen folgen und direkt hierher geführt werden. | ||
+ | Nox Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen, dann stieg ein Lachen in ihm auf. Es war ungemein befreiend. | ||
+ | Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie stark der Druck auf seinen Schultern gelastet hatte, keinen Beweis für die Richtigkeit seiner Mutmaßungen besessen zu haben. | ||
+ | Hier war der Anhaltspunkt, | ||
+ | Sein Blick studierte den Kartenausschnitt. | ||
+ | Der Großteil zeigte ein ländliches Gebiet mit kleinen Gemeinden. Eine Gegend, die perfekt war, um sich zu verstecken. | ||
+ | Mit freudiger Erwartung bezog Nox wieder seinen Posten am Laptop, er erwartete, dass in wenigen Minuten eine Mail im Postfach des Bücklings landete. Wie aufs Stichwort erklang der charakteristische Jingle, das einen Nachrichteneingang verkündete. Ein kurzer Scan verriet dem Killer, dass es sich um eine verschlüsselte Standortabfrage handelte, getarnt als Newsletter eines Steuerberaterverbandes. Nox grinste anerkennend. Sein ehemaliger Partner wäre vermutlich darauf hereingefallen. | ||
+ | Der Killer fand immer mehr Gefallen an dem Spiel. | ||
+ | Für diesen Fall hatte er einen PC im Büro stehen gelassen, den er nun per Fernzugriff hochfuhr und die Mail dort öffnete. Die Standortabfrage dauerte etwas länger als erwartet, selbst für das obligatorisch langsame Netz ländlicher Gebiete. Doch schließlich war die Adresse der Kanzlei übermittelt und Nox brach die Verbindung ab. Wie lange würde es noch dauern, bis Irina sich hier her traute? So viel Zeit war vergangen, Monate des Wartens und des Ausharrens, er sehnte sich danach, sie wiederzusehen. | ||
+ | In all den Jahren hatte es niemals eine Klientin gegeben, die seine Gedanken so lange beschäftigte, | ||
+ | Einerseits schien sie leicht zu durchschauen, | ||
+ | Irina wuchs einfach über sich hinaus und offenbarte dabei nur wieder neue Aspekte ihrer Menschlichkeit. | ||
+ | Es schien beinahe unmöglich, diese Frau zugrundezurichten. | ||
+ | Hinter dieser beinahe harmlosen Standortabfrage verbarg sich die konkrete Absicht von Irina, ihm entgegenzutreten. Nicht, weil er sie erpresste, sondern aus freien Stücken. Es war eine bewusste, überlegte Entscheidung. Sie hätte in ihrem Versteck bleiben, den Laptop vernichten können und Nox hätte ihren Namen als unerledigten Fall, als Versagen, wie einen Makel mit sich herumtragen müssen. Eine Strafe, deren Ausmaß ihr offensichtlich nicht bewusst war. Sie musste umgekehrt genauso empfinden, anders war es nicht zu erklären. | ||
+ | Der Gedanke an das nun greifbare Wiedersehen löste eine Kaskade unterschiedlicher Empfindungen in ihm aus, begleitet von einem angenehmen Kribbeln. Vorfreude und Neugier vermischten sich zu etwas Neuem, etwas Leidenschaftlichen. | ||
+ | Als Linda schließlich mit dem Kaffee zurückkehrte, | ||
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+ | Die Lavendelernte kam und ging. | ||
+ | Seit Irina die Adresse der Kanzlei erfahren hatte, war sie ein einziges Nervenbündel. Miryam, die eigentlich als Leibwächterin ins Kloster gekommen war, musste in den Wochen, die auf den erfolgreichen Hackerangriff folgten, immer häufiger Psychologin, | ||
+ | Ständig rannte sie zur Toilette, litt unter den Rückenschmerzen des Hohlkreuzes, | ||
+ | Aber dann krochen wieder Zweifel in ihr hoch. Was wäre, wenn er ähnliche Verhaltensweisen zeigte? Sie würde wohl immer nach Ähnlichkeiten suchen, auch wenn es keine gab. Nein, es war nicht richtig, ihn zu behalten, sie würde das Kind sicher mit ihrem Misstrauen verderben. Andere Eltern konnten unvoreingenommen in seine Augen blicken, ohne dort nach dem stechenden Blick des Auftragsmörders zu suchen. | ||
+ | Der berechnete Geburtstermin rückte näher, und zu Irinas Leidwesen stellten sich immer wieder Scheinwehen ein, die ihre Nervosität und Unruhe noch zusätzlich schürten. | ||
+ | Eine neue Idee hatte sich in ihr festgesetzt. Seit Tagen versuchte sie Miryam zu überreden, an ihrer Stelle die Kanzlei auszukundschaften. | ||
+ | „Schau, er will mir sicher eine Falle stellen, also warum sollten wir nicht folgendermaßen vorgehen: Du kundschaftest die Lage aus und siehst dir die Räumlichkeiten an. Wenn du auf Nox triffst, dann kannst du ihn für mich nach dem Auftraggeber fragen. Er wird dir nichts antun, denn du wärest als Unterhändler unterwegs und er will ja mich. So kann ich ihn zwingen, den Namen des Auftraggebers zu verraten.“ | ||
+ | „Was macht dich so sicher, dass er tatsächlich darauf eingeht?“ | ||
+ | „Weil es die einzige Möglichkeit für ihn wäre, mir noch einmal zu begegnen. Wenn ich persönlich in der Kanzlei auftauche, dann hat er mich ja schon. Warum sollte er mir dann noch irgendetwas verraten? | ||
+ | Dieses Gespräch hatten sie schon oft durchgekaut, | ||
+ | Miryam blickte sie stirnrunzelnd an. | ||
+ | „Ist sicher wieder nur eine Scheinwehe“, | ||
+ | Miryam schwieg einen Augenblick. | ||
+ | „Also gut“, sagte sie schließlich, | ||
+ | Irinas Herz machte vor Freude einen Sprung, doch sie konnte es nicht richtig zeigen, denn die Wehe dauerte an. | ||
+ | „Ich danke dir, Miryam, das bedeutet mir sehr viel. Fährst du gleich los?“ | ||
+ | „Na, ich würde lieber erst morgen hinfahren, jetzt verpasse ich sicher die Geburt. Wenn ich dich so ansehe, dann habe ich nicht den Eindruck, dass das wieder nur Scheinwehen sind.“ | ||
+ | „Es sind noch fast zehn Tage bis zum Geburtstermin, | ||
+ | „Das weiß der kleine Racker ja noch nicht“, entgegnete Miryam und warf Irina einen prüfenden Blick zu, „Bist du sicher, dass ich jetzt fahren soll? Ich kann das auch morgen erledigen.“ | ||
+ | „Soll ich selbst hinfahren? Ich mach das, du weißt, dass ich das machen würde.“ | ||
+ | „Bloß nicht, leg dich lieber hin, ich geh ja schon, damit du dir in der Zwischenzeit keine neuen Flausen in den Kopf setzt.“ | ||
+ | Irina grinste. „Ich doch nicht, du kennst mich doch.“ | ||
+ | „Ich hab befürchtet, | ||
+ | Miryam begleitete Irina auf ihr Zimmer, das mittlerweile vollgestellt war, mit Wickeltisch und Stubenwagen, | ||
+ | Mit einer Sache hatte Irina vollkommen Recht. Wenn sie dem Killer in der Kanzlei begegnete, gab es keinen Grund für ihn, Name und Adresse des Auftraggebers herauszurücken. Sicher hatte er alle Eventualitäten bedacht, sodass er die Identität notfalls mit ins Grab nehmen konnte, ohne für Irina einen Hinweis zu hinterlassen. | ||
+ | Wenn er tatsächlich so besessen von ihr war, dann würde er sich sicher auf einen Deal einlassen. Das konnte Irinas Chancen auf einen Sieg unter den gegebenen Umständen nur verbessern. | ||
+ | Miryam warf einen Blick auf die Uhr. Es war noch früh am Morgen, wenn sie sich beeilte, konnte sie am Nachmittag in der Kanzlei sein und sich als potentieller Kunde in einem Rechtsstreit ausgeben. | ||
+ | Auf eine Schusswaffe musste sie dann zwar verzichten, doch ein Messer konnte sie zur Sicherheit in einem Holster am Knöchel mitnehmen. | ||
+ | Sie entschied sich für eine gemusterte, luftige Sommerhose, die weit genug war, um die verräterischen Umrisse des Messers zu verbergen, und eine helle Bluse, die ihre Bewegungsfreiheit nicht einengte. | ||
+ | Die Hitze machte ihr nicht so sehr zu schaffen wie den Einheimischen, | ||
+ | Das Auto glühte regelrecht von innen, das Lenkrad war so heiß, dass sie es kaum anfassen konnte. Eine Klimaanlage besaß der alte Golf nicht, doch der Fahrtwind brachte genug Abkühlung, sodass es schnell angenehm wurde. | ||
+ | Unterwegs hielt Miryam bei einem Internet-Café und erstellte eine Mappe mit Steuerunterlagen, | ||
+ | Der zweite Teil der Fahrt dauerte eine halbe Ewigkeit. Ein Stau auf der Autobahn kostete sie so viel Zeit, dass es langsam knapp wurde, um noch während der Öffnungszeiten die Kanzlei zu erreichen, doch sie schaffte es. Eine Weile stand sie zweifelnd vor dem Haupteingang des Bürokomplexes und studierte die vielen Firmennamen und Logos, die auf einer riesigen Tafel neben dem gepflasterten Fußweg angaben, wer in dem Gebäude ansässig war. | ||
+ | Das Logo der Rechtsanwaltskanzlei lag versteckt zwischen einer bekannten Softwarefirma und einem Call- Center, andere Angaben fehlten, sodass Miryam alleine mit dem Namen keine Möglichkeit gehabt hätte, um dieses Logo damit in Verbindung zu bringen. In Gedanken dankte sie dem Hacker, der ihr die Mails zugeschickt hatte, in der Signatur war das Logo enthalten gewesen. | ||
+ | Als sie durch die Drehtür in das klimatisierte Innere des Gebäudes trat, stieg die vertraute Anspannung und nervöse Vorsicht in ihr auf, die sie immer auf ihren Einsätzen begleitete, und sie musste sich beherrschen, | ||
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+ | Die Wehen, die Irina schon den ganzen Vormittag mit Schmerz peinigten, wurden immer stärker. So langsam keimte der Verdacht in ihr, dass es doch kein falscher Alarm sei. Während des Mittagessens bemühte sie sich Haltung zu bewahren. Sie wollte keinen Aufruhr verursachen und zog sich gleich danach wieder in ihre Kammer zurück. | ||
+ | Wie lange dauerten die Schmerzen jetzt schon an? Sie rechnete zurück und stellte erschrocken fest, dass etwa acht Stunden seit den ersten Wehen vergangen sein mussten. | ||
+ | Es war Zeit, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen. Das Kind war unterwegs. Irina wartete den nächsten, schmerzfreien Intervall ab und quälte sich aus dem Bett, um die Hebamme zu holen. | ||
+ | Der Weg durch die drückende Hitze des späten Nachmittags brachte sie völlig außer Atem, der kurze Fußmarsch vom Wohngebäude zu den Werks- und Arbeitsräumen erschien ihr unglaublich weit. Im Innern des Neubaus war es nur unwesentlich kühler. Es gab keine dicken Sandsteinwände, | ||
+ | Sie warf einen Blick hinein, Schwester Benedicta und eine Gruppe der „Kloster auf Zeit“-Besucherinnen nähten hier kleine Kissen, die später mit dem getrockneten Lavendel befüllt würden. Nähmaschinen ratterten. Das Gespräch drehte sich um die Auslegung verschiedener Bibelstellen, | ||
+ | „Ich glaube, es ist so weit. Ich bin mir nicht sicher, aber die Wehen hören nicht mehr auf“, sagte sie, noch bevor die Nonne Zeit hatte, eine Frage zu stellen. | ||
+ | Schwester Benedicta stockte für einen Moment der Atem, das angefangene Kissen in ihren Händen sank auf den Schoß, nur um plötzlich eilig beiseite gelegt zu werden. Die Augen der Nonne glitzerten vor Aufregung und Tatendrang. | ||
+ | „Wie lange dauern sie schon an?“, fragte sie aufgeregt. | ||
+ | „Seit dem Frühstück etwa.“ | ||
+ | „Gütiger Himmel, du hättest schon viel früher was sagen müssen!“, | ||
+ | Sofort brach emsige Aufregung in dem Raum aus. | ||
+ | Eine junge Frau wurde losgeschickt, | ||
+ | Helfende Hände setzten Irina auf einen Stuhl, der plötzlich in einem Zuber stand. Irina fühlte sich ein wenig in der Zeit zurückversetzt, | ||
+ | Die Hebamme traf ein, schwer beladen mit elektrischen Gerätschaften. Ein tragbarer Wehenschreiber wurde aufgebaut, Irina bekam Dioden auf den Bauch geklebt, den sie zuvor frei gemacht hatte. Die verstohlenen Blicke der vielen Helferinnen glitten über Irinas vernarbte Haut, das Rautenmuster auf ihrem Oberschenkel, | ||
+ | „Dem Kind geht es fantastisch“, | ||
+ | Plötzlich ergoss sich ein Schwall warmer Flüssigkeit über Irinas nackte Schenkel und plätscherte in den Zuber. | ||
+ | Die Fruchtblase war geplatzt, jetzt wurde es wirklich ernst. | ||
+ | Irina brachte ein gequältes Lächeln zustande. Die Wehe schwoll immer noch an, die Schmerzen nahmen kein Ende, das Ziehen in ihrem Bauch wurde unerträglich. Sie klammerte sich an dem Stuhl fest und versuchte, kontrolliert zu atmen. Es gelang ihr nur teilweise. | ||
+ | „Verdammte Scheiße!“, | ||
+ | „Keine Angst Liebes, vor dir sind schon ganz andere Frauen Mütter geworden. Du bist stark, du hast so einen weiten Weg bewältigt, um hier her zu kommen, jetzt schaffst du auch die Geburt.“ | ||
+ | „Ich hab eine Scheiß-Angst“, | ||
+ | Sie schwitzte aus allen Poren, am liebsten wäre sie vor der Geburt davongerannt. Der Gedanke war so lächerlich, | ||
+ | „Setzen Sie sich nicht unter Druck. Es kann noch eine Weile dauern, bis es so weit ist. Sie müssen sich ihre Kräfte noch gut einteilen. Die Wehen werden noch stärker werden, und dann müssen Sie noch genug Kraft haben, um das Kind bei der Geburt zu unterstützen.“ | ||
+ | „Wie viel schlimmer wird es denn noch?“ | ||
+ | „Nach dem Wehenschreiberdiagramm würde ich sagen, dass wir jetzt in der Übergangsphase sind. Die wird immer als sehr schmerzhaft empfunden, aber die Austreibungswehen sind um einiges heftiger.“ | ||
+ | Irina versuchte ihre aufkeimende Panik herunterzuschlucken. "Um einiges heftiger" | ||
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+ | Miryam verließ den Fahrstuhl und ließ unschlüssig ihren Blick durch den Flur schweifen. Beide Richtungen sahen gleichermaßen nichts sagend aus. Sie wandte sich nach links, las aufmerksam die Firmenlogos auf den Milchglastüren, | ||
+ | Zur Hälfte hatte sie schon an der Existenz der Kanzlei gezweifelt, als sie endlich die Worte „Rechtsanwaltskanzlei Radek“ auf einer der letzten Türen am Ende des Flurs entdeckte. Miryam straffte sich und klopfte, wartete zwei Sekunden, bevor sie die Türklinke herunterdrückte und den Raum betrat. | ||
+ | Sie wusste auf den ersten Blick, dass sie in eine Falle getappt war. | ||
+ | Der Raum war leer, bis auf einen runden Tisch, auf dem eine vereinsamte Mappe lag. Die bereits tief stehende Sonne sandte goldgelbe Strahlen durch die großen Fenster. Miryam machte zwei Schritte in den Raum, drehte sich dabei um ihre eigene Achse, um den toten Winkel in Augenschein zu nehmen und stellte fest, dass sie entgegen ihrer Erwartung alleine war. Ihr geschulter Blick entdeckte die Lichtschranke, | ||
+ | Mit einer Hand legte sie ihre eigene Mappe ab und zog dann mit den Fingern die fremde Akte auf dem Tisch über die Platte, während sie um ihn herum ging, bis sie sich hinter dem Tisch und gegenüber der Tür befand, die sie nun im Blick behalten konnte, während sie die Akte untersuchte. | ||
+ | Sie schlug den Deckel auf. | ||
+ | Es war Irinas Fall, bildreich dokumentiert mit Ausdrucken der Mails. Miryam kannte die Bildserien bereits von der Festplattenrekonstruktion, | ||
+ | Ein fieser Schachzug, Miryam schüttelte angewidert den Kopf. Irina wäre sicher kreidebleich geworden, hätte sie die Mappe gesehen. | ||
+ | Natürlich gab es neben den Fotos keine neuen Informationen, | ||
+ | Ein Schatten war hinter der Tür erschienen, die im nächsten Moment geöffnet wurde und ein großer Mann betrat den Raum. Miryam registrierte zuerst den stechenden Blick seiner eisblauen Augen, die hohen Wangenknochen, | ||
+ | Jeder Muskel in Miryams Körper spannte sich. Das Holster, mit dem Messer an ihren Bein, begann auf der Haut zu jucken. | ||
+ | „Ich fürchte, Sie haben sich verlaufen“, | ||
+ | Sie nickte bedächtig. Er legte tatsächlich ungewöhnlich viel Wert auf höfliche Umgangsformen. Sie ließ sich auf das Spielchen ein. | ||
+ | „Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit. Ich schätze, der Raum ist für meinen Interessenten ein wenig zu klein, eine Besichtigung ist also nicht mehr nötig“, sie warf einen demonstrativen Blick auf die Fallakte und fuhr langsam fort, „Der ehemalige Mieter hat einen interessanten Steuerrechtsstreit hier liegen gelassen.“ Sie wandte sich wieder dem Killer zu und bedachte ihn mit einem scharfen Blick. | ||
+ | Nox lächelte süffisant. | ||
+ | „Dieser Fall ist sogar sehr interessant. Ich bin sicher, dass Ihr Interessent einiges dafür geben würde, im Gegensatz zu den Räumlichkeiten.“ | ||
+ | Miryam schüttelte den Kopf, ein wenig überrascht, | ||
+ | Nox grinste belustigt: „Sie sind gut informiert. Wenn Sie mich unterhalten, | ||
+ | Er machte einen Satz auf Miryam zu, die reflexartig über den Tisch flankte und das Möbelstück so zwischen sich und den Auftragsmörder brachte. Verdammt, er war unglaublich schnell, und sie konnte ihn noch nicht einschätzen. Es war unklug, sich gleich auf eine Auseinandersetzung einzulassen. Er strahlte eine unverschämte Selbstsicherheit aus, die auf normale Menschen geradezu einschüchternd wirken musste. | ||
+ | Nox trat einige Schritte zurück, schlenderte weiter in den Raum hinein und machte eine einladende Geste: „Nicht so schüchtern, | ||
+ | Miryam nickte ihm anerkennend zu. | ||
+ | Er war wirklich gut, der erste Eindruck hatte sie nicht getäuscht. So langsam begriff sie, weshalb dieser Mann so ein Mysterium in der Szene war. Seine ruhige, höfliche Art, die gewählte Ausdrucksweise und das großspurige Auftreten mochten die meist grobschlächtigen und weniger intellektuell veranlagten Kollegen über die tatsächliche Gefahr hinwegtäuschen, | ||
+ | Sie ließ ihn nicht aus den Augen, während sie das Messer aus dem Holster zog. „Wenn Sie mich so dazu auffordern, dann will ich Sie natürlich nicht enttäuschen“, | ||
+ | |||
+ | ~ | ||
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+ | Irina schrie. Hatten die Wehen der Übergangsphase schon eine deutliche Schmerzsteigerung dargestellt, | ||
+ | Am frühen Abend hatten die Wehen endlich ihren Höhepunkt erreicht. | ||
+ | „Pressen“, | ||
+ | Irina zwang sich, der Anweisung zu folgen, saugte Luft in die Lunge und presste. | ||
+ | „Weiter, weiter, weiter, Sie machen das großartig, noch ein kleines Stückchen, weiter“, feuerte die Hebamme sie an, aber Irina hatte keine Kraft mehr. Der Druck, den das Kind zwischen ihren Beinen ausübte wurde unerträglich. | ||
+ | „Noch einmal“, forderte die Hebamme. „Atmen Sie und schieben Sie.“ | ||
+ | Irina sammelte verzweifelt die schwindenden Kräfte. | ||
+ | Sie grunzte unter der Anstrengung. | ||
+ | Sie brüllte, schrie, kreischte, die Stimme kletterte die Tonleiter nach oben, um irgendwo im hochfrequenten Bereich abzubrechen. | ||
+ | „Hecheln, hecheln, hecheln“, rief die Hebamme wieder über die Schmerzen hinweg. Das Gefühl veränderte sich. | ||
+ | „Wenn ich den Vater in die Finger kriege, bring ich ihn um!“, giftete Irina. | ||
+ | Die Hebamme lächelte flüchtig. Solche Sprüche waren ihr bekannt, viele werdende Mütter beschimpften die Väter, wenn sie in den Wehen lagen, machten sie für die Schmerzen verantwortlich, | ||
+ | Die Ernsthaftigkeit hinter Irinas Worten blieb der Geburtshelferin verborgen. | ||
+ | „Das Köpfchen ist durch, das haben Sie ganz toll gemacht. Atmen Sie erst einmal und sammeln Sie sich, bevor es zum Endspurt geht.“ | ||
+ | Irina keuchte. „Ist mein voller Ernst, das zahl ich ihm heim“, bekräftigte sie. Schwester Benedicta tupfte ihr das Gesicht mit einem Tuch ab, Schweiß und Tränen vermischten sich auf der Haut zu einem fettigen Film. „Sie machen das ganz toll“, sagte sie mit Ehrfurcht in der Stimme. | ||
+ | „Wieviel Zeit hab ich denn?“, fragte Irina matt. | ||
+ | „Bis zur nächsten Presswehe, in etwa einer Minute, können Sie durchatmen und sich sammeln“, erklärte die Hebamme, „Ihr Kind wird ja noch durch die Nabelschnur versorgt.“ | ||
+ | „Der Vater kann was erleben, wenn ich ihn in die Finger kriege“, wiederholte Irina noch einmal mit Inbrunst, während sie wieder versuchte, ihre Kräfte zu sammeln. | ||
+ | Dann stöhnte sie schmerzerfüllt, | ||
+ | „Sind Sie soweit?“, fragte die Hebamme. Irina nickte zustimmend und presste mit aller Kraft, klammerte sich an den Gedanken, dass dies der letzte Schub sein könnte, wenn sie sich nur genügend Mühe gab. | ||
+ | „Schieben Sie, wunderbar, noch ein kleines bisschen, weiter, weiter, weiter, noch ein Stückchen, Sie haben es gleich geschafft, jetzt hecheln, hecheln, hecheln“, der Beistand der Hebamme mündete in einem freudigen Ausruf. Irina fühlte, dass sie es tatsächlich geschafft hatte. | ||
+ | „Da ist er, möchten Sie ihn haben?“, in der Stimme der Hebamme vermischten sich Ehrfurcht, Freude und Begeisterung. | ||
+ | Irina lächelte erschöpft, im nächsten Moment lag der kleine Säugling auf ihrer nackten Brust und wurde mit einem dicken, flauschigen Tuch zugedeckt. | ||
+ | Im Hintergrund sagte Schwester Aloysia zur Hebamme: „Die genaue Geburtszeit war 19:24 Uhr, heute ist der 13. September.“ | ||
+ | Nass, grau, faltig, die kleinen Äuglein zugekniffen, | ||
+ | Als die Hebamme die Nabelschnur durchtrennte und damit die Verbindung zur Mutter kappte, begann der Junge zu schreien. | ||
+ | „Hey, du hast es wirklich geschafft“, | ||
+ | Rasch färbte sich die Haut rosig und die winzigen Augen öffneten sich. | ||
+ | „Ich muss ihn dir noch einmal kurz entführen und die Erstuntersuchung machen, dann bekommst du ihn zurück“, sagte die Hebamme behutsam. | ||
+ | Irina nickte, folgte der Geburtshelferin mit den Augen, die nebenan auf einem Beistelltisch den schreienden Säugling mit dem Tuch trocken rieb und begutachtete. | ||
+ | „Alle Fingerchen sind dran, Füße, Zehen, sieht alles gut aus“, erzählte die Hebamme für Irina, die nicht alles sehen konnte, „Größe: 54cm, der Kopfumfang beträgt 35,5cm, Gewicht - nicht schummeln, schön in der Waage liegen bleiben - 3638g, ein gesunder Knabe.“ | ||
+ | Sie wickelte den Säugling und brachte ihn zur Mutter zurück. | ||
+ | „Hier ist er schon wieder.“ | ||
+ | Irina nahm das Bündel entgegen. Das eingepackte Würmchen hatte sich wieder beruhigt und blickte nun zwinkernd und erschöpft aus eisblauen Augen in die Welt. Nox Augen. Die Farbe war jedoch die einzige Gemeinsamkeit, | ||
+ | „Hallo Juri“, sagte sie noch einmal matt. Das rosige Würmchen in ihrem Arm antwortete mit einem kurzen Glucksen und zwinkerte wieder. | ||
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+ | ~ | ||
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+ | Miryam duckte sich unter einem Schwinger weg, der auf ihr Gesicht zielte und schoss nach vorne. Das Messer zischte durch die Luft, verfehlte jedoch die Leber des Killers, als dieser sich blitzartig zur Seite drehte. | ||
+ | Gleichzeitig führte er einen Tritt in ihre Richtung aus, und er holte bereits wieder Schwung, um mit einem Faustschlag nachzusetzen. | ||
+ | Miryam wich dem Tritt aus, doch sie war zu langsam, um auch dem Schlag auszuweichen, | ||
+ | Der linke Arm sank, nutzlos und taub nach dem Treffer, zur Seite. | ||
+ | Sie packte das Messer in der rechten Hand fester, umkreiste Nox wie eine Raubkatze, der seinerseits jeder ihrer Bewegungen folgte, bereit zu reagieren. | ||
+ | Das spöttische Lächeln war einem konzentrierten Ausdruck gewichen, nur seine Augen funkelten ab und an und verrieten den Genuss, den er bei diesem Kampf empfand. | ||
+ | Schon nach dem ersten Schlagabtausch hatte Miryam begriffen, dass Nox ihr überlegen war, und sie wusste, dass er nur mit ihr spielte. Ihre ganze Hoffnung stützte sich auf Irinas vage Vermutung, dass der Killer von ihr besessen sei. | ||
+ | Mit der Beschreibung seines Bewegungsablaufs hatte sie völlig richtig gelegen. Es war unmöglich, dieses Ineinanderfließen der einzelnen Teilbewegungen zu beschreiben, | ||
+ | Einen weiteren Treffer konnte sie nicht riskieren, dieser eine war schon zu viel gewesen und schwächte sie mehr als erwartet. | ||
+ | Sie musste sich etwas einfallen lassen. | ||
+ | Als sie vorstieß, hatte Nox den Angriff bereits vorausgesehen und empfing sie mit einem Schlag gegen den Unterarm, der ihr das Messer beinahe aus der Hand prellte. Blitzschnell warf sie es in die andere, auch wenn der Arm nur langsam auf Befehle reagierte. Sie drehte sich seitlich unter einem Tritt hindurch, den sie nur als vage Bewegung aus dem Augenwinkel wahrgenommen hatte, das Messer zuckte nach vorn, zerschnitt das T-Shirt des Killers, dann traf sie etwas zwischen die Schultern und trieb ihr Luft aus der Lunge. | ||
+ | Diesen Treffer hatte sie nicht kommen sehen. Miryam stolperte, knickte mit einem Bein ein und musste sich mit einer Hand am Boden abstützen. Nox entfernte sich ein paar Schritte, umkreiste die hustende Frau, die japsend nach Atem rang. | ||
+ | „Sie sind ja richtig ernst bei der Sache“, kommentierte er spöttisch, als sei dies ein Trainingskampf und kein bitterer Ernst, „Jetzt muss ich mir wohl ein neues Hemd kaufen.“ | ||
+ | „Ist das alles, was Sie interessiert? | ||
+ | Nox deutete ein Kopfschütteln an. | ||
+ | „Die Haut repariert sich von alleine, im Gegensatz zu meiner Kleidung. Wenn Sie mich ernsthaft herausfordern wollen, müssen Sie sich mehr anstrengen.“ | ||
+ | „Sie bringt wohl gar nichts aus der Ruhe“, meinte Miryam konsterniert. | ||
+ | „Nicht viel“, Nox‘ Augen blitzen belustigt auf, „Sie haben mir noch gar nicht verraten, weshalb Irina nicht persönlich her gekommen ist.“ | ||
+ | „Sie haben nicht gefragt“, Miryam grinste. | ||
+ | „Verraten Sie es mir?“, er schenkte ihr ein perfekt geschauspielertes, | ||
+ | „Vielleicht“, | ||
+ | „Das klingt ja beinahe nach einem fairen Informationsaustausch. Ich werde darüber nachdenken. Haben Sie sich ein wenig entspannt? | ||
+ | „Wo denken Sie hin? Nur weil Sie mir überlegen sind, gebe ich doch nicht gleich auf“, Miryam brachte ein schiefes Lächeln zustande. | ||
+ | Der linke Arm hatte sich ein wenig erholt, wenn sie es vor ihm verbergen konnte, hätte sie vielleicht einen kleinen Vorteil. | ||
+ | Er nickte ihr zu, einerseits ihre Ehrlichkeit anerkennend, | ||
+ | Dann sprang sie vor, ließ sich gleichzeitig auf die Hände fallen, um ihrem Gegner mit einem Tritt die Füße wegzuziehen, | ||
+ | Der Boden kippte auf sie zu und wieder weg, als Nox sie an den Haaren packte und festhielt, damit sie nicht fiel. | ||
+ | Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen, sie bekam immer noch keine Luft, doch Miryam brauchte nicht zu sehen, um zu wissen, wo der Killer stand. Sie sammelte noch einmal ihre Reserven, packte seine Hand, die sich in ihre Locken krallte, hängte ihr ganzes Gewicht daran, gleichzeitig schossen ihre Beine vor, um als Hebel zu fungieren, Nox aus dem Gleichgewicht zu bringen und über sich hinwegzuschleudern. | ||
+ | Es funktionierte nicht. | ||
+ | Sein Stand war unerschütterlich, | ||
+ | Nox machte ein belustigtes Geräusch, das ein Lachen sein mochte, und umkreiste sie. | ||
+ | „Der Versuch war nicht schlecht, ich bin sicher, dass Sie bei jedem anderen Gegner Erfolg gehabt hätten“, kommentierte er süffisant. | ||
+ | „Vielen Dank für die Blumen“, Resignation schwang in Miryams Stimme mit, sie rappelte sich auf und keuchte vor Schmerz, langsam gingen ihr die Möglichkeiten aus, und ihre Kräfte neigten sich dem Ende zu. | ||
+ | Ein spöttisches Lächeln umspielte die Lippen des Killers, der zu warten schien. Miryam holte tief Luft und nahm ihn erneut ins Visier. Offensichtlich erwartete Nox, dass sie noch einmal angreifen würde, obwohl beiden klar war, dass es keinen Sinn mehr hatte. | ||
+ | Wo lag das Messer? | ||
+ | Ihr Blick ruhte weiterhin auf dem hochgewachsenen Auftragsmörder, | ||
+ | In Gedanken rekonstruierte sie Richtung und Flugbahn der Waffe, als Nox sie abgewehrt hatte, dann warf sie sich zur Seite, rollte über den Teppich, die rechte Hand schloss sich zielsicher um den Griff der Klinge und noch bevor sie wieder auf die Beine kam, warf sie blindlinks nach Nox‘ Schatten. | ||
+ | Er wehrte auch diesen Angriff souverän ab, hechtete vor und holte zu einem gewaltigen Schlag aus. Miryam rollte erneut über den Boden, versuchte in die andere Richtung auszuweichen, | ||
+ | Mit einem unterdrückten Schmerzenslaut brach sie zusammen, Teppichfasern drangen zwischen ihre Lippen, eine Fluse auf der Zunge löste einen würgenden Hustenanfall aus. | ||
+ | „Sind Sie schon müde?“ Nox Worte bahnten sich undeutlich einen Weg durch das Rauschen in Miryams Ohren. Sie hätte gerne geflucht, doch die Höflichkeit, | ||
+ | „Ich entschuldige mich dafür“, würgte sie undeutlich hervor, bemüht, nicht auf den Teppich zu erbrechen und damit ihre Würde zu beschädigen. | ||
+ | „Wie schade, es war ein sehr kurzes Vergnügen, aber durchaus amüsant.“ | ||
+ | Miryam hörte, wie er hinter sie trat, konnte sich aber kaum noch bewegen. So hatte sie auch keine Gegenwehr, als er einen schweren Arm von hinten um ihren Hals legte und ihr schon wieder den Atem raubte. Nox‘ Stimme erklang dicht neben ihrem rechten Ohr: „Warum ist Irina nicht persönlich gekommen? | ||
+ | „Sie hat gewusst, dass dies eine Falle ist“, antwortete sie mit dünner werdender Stimme, unter dem Druck des Killers. | ||
+ | „Wenn Sie eingeweiht sind, wie stehen Sie dann zu ihr? Sind Sie befreundet mit Irina?“, das Grinsen des Killers schwang deutlich in seiner Stimme mit. | ||
+ | „Ich wurde als Leibwächterin angeheuert“, | ||
+ | „Ihre Fähigkeiten sprechen dafür, aber ihr Erscheinen hier legt einen anderen Schluss nahe, und ich schätze es nicht, belogen zu werden.“ | ||
+ | Der Druck auf ihren Hals wurde stärker. Miryam war kaum noch in der Lage, die nächsten Worte auszusprechen. Wieder tanzten schwarze Punkte vor ihren Augen. | ||
+ | „Meine Aufgabe ist es Irina zu schützen, notfalls, vor sich selbst. Sie wollte kommen. Ich habe es verboten. Sie hat keine Ruhe gegeben, sodass ich mich bereit erklärt habe, die Lage auszukundschaften, | ||
+ | Für einen unendlichen Augenblick schien es, als wollte der Killer Miryam erwürgen, doch plötzlich lockerte sich sein Griff ein wenig, und sie japste keuchend nach Luft, auch wenn er ihr nicht viel davon gestattete. | ||
+ | „Sie sind also tatsächlich eingeweiht. Ich vermute, Sie haben ihr auch ein wenig Unterricht in Selbstverteidigung erteilt“, Nox Stimme klang merkwürdig, | ||
+ | Miryam sank in den Teppich, pumpte gierig Luft in die Lungen und wartete, dass sich der Schleier vor ihren Augen lichtete. | ||
+ | Als sie sich schließlich aufrappelte, | ||
+ | Der Raum wirkte völlig unberührt, nichts deutete auf den Kampf hin, der hier stattgefunden hatte. Nox hatte ihr Messer entfernt. | ||
+ | Sie rappelte sich auf und trat den Rückweg an, erleichtert und euphorisiert, | ||
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+ | ~ | ||
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+ | Juris Weinen riss Irina aus dem Schlaf. Es war dunkel geworden. Die Anstrengungen der Geburt lagen hinter ihr, sie hatte keine Schmerzen mehr, nur eine matte Erschöpfung steckte ihr noch in den Gliedern. | ||
+ | Sie quälte sich aus dem Bett und tappte zu dem kleinen Stubenwagen, | ||
+ | „Schon wieder hungrig? Das ging ja fix“, sagte sie schlaftrunken und nahm ihn behutsam auf den Arm. | ||
+ | Sofort erstarb das Weinen und wich einem leisen Quengeln. | ||
+ | Irina setzte sich auf die Bettkante, gab ihm die Brust, bis er satt war, legte ihn an die Schulter und wartete auf das Bäuerchen. | ||
+ | Es klopfte an der Tür. | ||
+ | „Miryam? Komm rein, ich bin wach.“ | ||
+ | Die Leibwächterin betrat den Raum mit einem breiten Grinsen, ihre Augen strahlten. „Da bin ich einmal weg, und du bekommst ohne mich das Kind, schämst du dich nicht?“ | ||
+ | Irina strahlte zurück. „Die Schuld liegt ganz bei ihm, plötzlich hatte er es furchtbar eilig, auf die Welt zu kommen.“ | ||
+ | „Wie heißt er denn?“ | ||
+ | „Juri.“ | ||
+ | „Gefällt mir, du hast dir die Sache mit dem Namen also doch spontan überlegt, oder?“ | ||
+ | „Stimmt, ich weiß auch nicht. Vorher konnte ich mich nicht entscheiden, | ||
+ | Miryam nickte verstehend: „Ein schöner Name.“ | ||
+ | Der Säugling auf Irinas Arm rülpste leise. | ||
+ | „Möchtest du ihn mal halten?“ | ||
+ | „Ja gern.“ | ||
+ | Miryam setzte sich neben Irina und nahm vorsichtig das rosige Würmchen auf den Arm. „Hallo Juri, was wirst du wohl später mal werden?“ | ||
+ | Zur Antwort brach der kleine Junge in Geschrei aus. | ||
+ | „Oh, ich glaube, er mag mich nicht.“ | ||
+ | „Ach was, ich schätze, er merkt schon, dass du nicht Mama bist, und das gefällt ihm nicht“, seufzte Irina. Miryam reichte ihr lächelnd den weinenden Jungen zurück. | ||
+ | „Ist ja gut“, tröste die Mutter ihren Sohn, „Kein Grund zur Aufregung. Wir gehen jetzt wieder schön ins Bett.“ Juri schien nicht überzeugt von dieser Idee, denn er plärrte einfach weiter. Irina lief in der engen Kammer eine Weile auf und ab und summte ein leises Schlaflied, bis er sich endlich müde geweint hatte und auf dem Arm seiner Mutter einschlief. | ||
+ | Behutsam legte sie den Säugling in sein Bettchen. | ||
+ | Mit einer stummen Geste bedeutete sie Miryam, dass sie vor die Tür gehen wollte, und sie schlichen leise aus dem Raum, um das Kind nicht wieder zu wecken. | ||
+ | Nebenan, in Miryams Zimmer, bedrängte Irina die Freundin sofort mit Fragen: „Wie war es? Bist du ihm begegnet? Was hat er gesagt? Hat er dich verletzt? | ||
+ | „Alles gut“, unterbrach Miryam, dachte schuldbewusst an die schmerzenden Glieder und hob beschwichtigend die Arme. | ||
+ | „Ich bin ihm tatsächlich begegnet. Ich muss gestehen, du hast nicht untertrieben, | ||
+ | „Erzähl schon, lass dir nicht jedes Detail aus der Nase ziehen.“ | ||
+ | „Kurz gesagt: Er hat dir ein Angebot gemacht. Du bekommst zehn Minuten mit seinem Auftraggeber, | ||
+ | Irina überhörte das. „Du hast also tatsächlich die Identität des Auftraggebers und auch noch seine Adresse bekommen? | ||
+ | „Ja, schon, aber -“ | ||
+ | „Raus damit! Ich will, ich muss es wissen!“ | ||
+ | Miryam seufzte: „Der Name lautet Herbert Neumann.“ | ||
+ | Irinas Augen wurden groß, eine kribbelnde Unruhe ergriff von ihr Besitz, aufgeregt wanderte sie in der kleinen Kammer umher. | ||
+ | „Neumann, Neumann, warte, das sagt mir was.“ | ||
+ | „Das ist ein Allerweltsname, | ||
+ | „Ja doch, warte, ich komm gleich drauf. Herbert Neumann, der Name erinnert mich an die Gerichtsverhandlung gegen Karstens Mörder“, sie blieb stehen und starrte Miryam an, „Oh, jetzt fällt es mir wieder ein! Das war der Rechtsanwalt, | ||
+ | Dann breitete sich Verwirrung auf ihrem Gesicht aus. | ||
+ | „Warum sollte ein Rechtsanwalt mir einen Auftragsmörder schicken? Meinst du, er hat im Auftrag des Mörders gehandelt? | ||
+ | „Wie hieß er denn?“ | ||
+ | „Ostkamp, Robin Ostkamp. Er war damals grade volljährig geworden und völlig auf Drogen. Er hat im Rausch meinen Verlobten totgeprügelt.“ | ||
+ | Irina stellte überrascht fest, dass die Erinnerung an diese Ereignisse kaum noch Gefühle in ihr hervorrief. Sie kramte in ihren Erinnerungen, | ||
+ | „Während des Gerichtsverfahrens war ich noch emotional aufgewühlt und habe viele Dinge nicht wahrgenommen. Ich erinnere mich aber noch daran, dass Ostkamps Anwalt sich furchtbar aufregte, weil sein Antrag für eine Verurteilung nach dem Jugendstrafrecht abgelehnt wurde. Der Staatsanwalt legte ein langes Strafregister vor und zeigte auf, dass Ostkamp schon eine längere Drogenkarriere mit allerlei kleinen und mittelschweren Delikten hinter sich hatte, als er noch minderjährig gewesen war. Der Junge wurde deshalb, gemäß seines Alters, nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilt, und der Staatsanwalt setzte sich auch noch mit der Anklage auf Mord durch. | ||
+ | Ostkamps Anwalt ist fast ausgerastet. Das ärgerte mich damals unglaublich, | ||
+ | Sie zuckte mit den Schultern, blickte ratlos zu Boden, dann wieder zu Miryam. | ||
+ | „Ich muss wissen, was dahinter steckt. Den Rechtsverdreher knöpf ich mir vor“, sagte sie grimmig. | ||
+ | Miryam sah sie nachdenklich an. „Du weißt, dass du ein anderes Leben haben könntest. Wenn du die Sache auf sich beruhen lässt, könntest du Juri behalten und einfach untertauchen. Nox lässt dir die Wahl, das hat er ausdrücklich betont.“ | ||
+ | Irina seufzte, versuchte sich wieder einmal vorzustellen, | ||
+ | Aber irgendwann würde er Fragen stellen. Fragen, die Irina das Herz brechen und Juris kindliche Welt zertrümmern würden. Fragen, die sie nicht mit einer Lüge beantworten konnte, das fühlte sie schon jetzt. | ||
+ | Auch fühlte sie wieder eine unbestimmte Angst, die die Aussicht auf das Familienleben trübte. Sie würde immer misstrauisch bleiben, ständig gequält von der Frage, wie viel von Nox in Juri steckte. | ||
+ | Ob er zu ähnlicher Grausamkeit fähig wäre? | ||
+ | Diese Zweifel, diese Voreingenommenheit konnten einem Kind nicht verborgen bleiben. Das musste einen schlechten Einfluss auf ihn haben, und vielleicht würde sie es grade dadurch provozieren. Nein, lieber gab sie ihn weg. In liebevolle, fürsorgliche Hände, die nichts von diesen Verflechtungen wussten. | ||
+ | „Ich kann ihn nicht behalten“, | ||
+ | Miryam seufzte. | ||
+ | „Dann hast du dich also entschieden? | ||
+ | „Definitiv. Ich bring das zu Ende, und Juri bekommt Eltern, die ihn unvoreingenommen lieben können.“ | ||
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reihe/there_aint_no_justice/kapitel_8.1599723195.txt.gz · Zuletzt geändert: 10.09.2020 07:33 von hikaru_mitena