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reihe:there_aint_no_justice:kapitel_8

Nephila

Kapitel 8

Nox drehte das Radio ein wenig lauter. Das melancholische Klavierintro von Gary Jules „Mad World“ entfaltete sich im Innenraum des Vitos. Wie passend, wo er doch soeben sein kleines Präsent für das Ermittlerteam im „Fall Meywald“ ausgeliefert hatte.

Bright and early for their daily races Going nowhere, going nowhere

Die Rückschläge der vergangenen Wochen hatten dem Team hart zugesetzt, Irinas Schwiegervater, der sich seit ihrer Flucht und der Grabschändung an einem sicheren Ort unter Polizeischutz befunden hatte, war dem Killer letzten Endes doch noch zum Opfer gefallen. Siel hatte das sehr persönlich genommen, nicht zuletzt, weil Nox auch ein Teammitglied hatte eliminieren müssen.

Hello teacher tell me what’s my lesson Look right through me, look right through me.

Der Ermittler war zu bedauern, man hatte ihm den Fall entzogen, die Verantwortung für das Desaster auf seine Schultern geladen und ihn nach Hause geschickt. Sein Team war aufgelöst und anderen Aufgaben zugeteilt worden. Siel stand buchstäblich vor den Scherben seiner Karriere. Zum Ausgleich hatte Nox ihm dieses Präsent zukommen lassen, das nun bei einer Nachbarin auf ihn wartete. Eine kleine Anerkennung für seine Bemühungen, aber auch ein Statement, welches dem abgeschobenen Ermittler die Möglichkeit bot, sich bei Vorgesetzten und Nachfolgern zu revanchieren; und dennoch würden sie ihn nicht weiter an dem Fall teilhaben lassen, gleichgültig wie viele wichtige Erkenntnisse Siel noch beizusteuern hätte.

When people run in circles, it’s a very, very Mad world

Die Klaviermelodie des Outros wurde vom Anfang des nächsten Liedes abgeschnitten, Nox schaltete das Radio aus, um die melancholische Atmosphäre noch einen Moment länger zu erhalten und aus der Ferne die Verzweiflung des Ermittlers schmecken zu können. Vor ihm sprang eine Ampel auf Rot. Er reihte sich in die wartenden Fahrzeuge ein und nutzte die Gelegenheit, um eine Musik- CD einzulegen. Es war Irinas Best-Of CD, die sie vor langer Zeit mit ihrer Freundin gehört hatte. Nox hatte die Stücke lange studiert und dadurch gleichsam ihr Wesen erforscht. Vieles, was die Musik ihm verraten hatte, sah er nun bestätigt. Die Ampel sprang auf Grün, und der Verkehr setzte sich wieder in Bewegung. Nox folgte dem Vorschlag des Navis, um einem Stau auszuweichen. Wenig später preschte der Vito über die Autobahn. Die Musik, die ein Mensch präferierte, verriet einiges über innere Befindlichkeiten, doch eine zutreffende Analyse war von vielen Aspekten des Alltags der Person abhängig. Nur, wenn man den Menschen als Ganzes betrachtete, konnte die Analyse der Musik, oder alternativ auch der Kunst, für die ein Mensch sich begeisterte, unbewusste Teile der Psyche ans Licht bringen. Ein messerscharfes Lächeln umspielte seine Lippen. Irina war immer noch nicht aus ihrem Versteck gekrochen. Offensichtlich hatte sie endlich Zugang zu der verborgenen Stärke in sich gefunden. Dieses anfängliche Einigeln, nach dem Mord an ihrem Verlobten, war nur eine Unsicherheitsreaktion gewesen, die auf ihrer damaligen, naiven Weltsicht gründete. Nox hatte ihr gezeigt, wie das Leben wirklich schmeckte. Wie ging sie damit wohl um? Die Tatsache, dass sie sich nicht erpressen ließ, verleitete zu der Annahme, dass sie einen gravierenden Sinneswandel durchlief, an dessen Ende sie zu Erstaunlichem fähig sein mochte. Nox trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Die Tachonadel hüpfte nach oben. Es wäre bedauerlich, wenn er diese Veränderung nicht mit eigenen Augen sehen könnte, nicht beobachten konnte, wie sein kleiner Schmetterling die Flügel ausbreitete. Er brauchte eine neue Taktik. Einen Grund, der sie aus ihrem Versteck lockte. Etwas, dem sie nicht widerstehen könnte. Die entscheidende Frage war, ob sie den Laptop noch besaß. In all der Zeit hatte sie ihn nicht ein einziges Mal eingeschaltet, aber Nox war überzeugt davon, dass sie das Gerät nicht zerstört oder verloren hatte. Er hielt sie für schlau genug, um eine Falle zu wittern. Wahrscheinlich hatte sie noch keine Möglichkeit gehabt, um irgendwelche Vorsichtsmaßnamen ergreifen zu können, und wartete geduldig auf eine Gelegenheit, um an seine persönlichen Daten zu gelangen. Die Ausbeute dürfte recht enttäuschend sein, dachte er schmunzelnd, denn er nutzte für jeden Auftrag ein werksneues Gerät. Wichtige Adressen und Telefonnummern lagen in einer Cloud, und auf der Festplatte befand sich nur die Dokumentation ihres eigenen Falls. Dennoch, ein versierter Hacker könnte eine Handvoll brauchbarer Daten aus dem Rechner gewinnen, etwa die E-Mail Adresse des Kontaktes und damit auch die Kanzlei. Wenn Irina die Identität des Auftraggebers herausfinden wollte, wäre dies ihre einzige Spur. Nox drosselte die Geschwindigkeit, der Verkehr nahm langsam zu und damit tauchte auch die obligatorische Geschwindigkeitsbegrenzung auf, die typisch für Ballungszentren war. Nicht mehr lange und er wäre wieder einmal in der Stadt, deren Namen er auf seinem Ausweis als Heimat angab. Die Kanzlei war für mehr als ein Jahrzehnt seine Tarnung gewesen, aber wie es aussah, musste er sich wohl eine neue zulegen. Seinen Partner würde er einfach im Zuge der Firmenauflösung entlassen, er war ohnehin nicht mehr vertrauenswürdig. Hinter der Wette musste mehr stecken, als der Bückling zugegeben hatte. In diesem Sinne stand zu befürchten, dass er sich auch an anderer Stelle unangemessene Freiheiten erlaubt hatte. Geschäftsbeziehungen waren nun mal nicht für die Ewigkeit gedacht. Einzig für die Räumlichkeiten der Kanzlei hatte der Killer noch einen kurzfristigen Verwendungszweck. Er würde Irina eine Falle stellen, der sie nicht widerstehen könnte; selbst, wenn sie es durchschauen sollte, würde sie sehenden Auges hineinlaufen, um eine Antwort auf diese eine, quälende Frage zu bekommen: Wer hatte den Killer beauftragt? Die Wahrheit würde sicher eine Überraschung sein. Nicht zum ersten Mal spielte Nox mit der Vorstellung, ein Treffen zwischen Irina und dem geheimen Unbekannten zu arrangieren. Der Vertragsbruch, den dieser durch die Verletzung der Schweigeklausel begangen hatte, befreite Nox von allen vertraglichen Verpflichtungen, sodass er sich dieses persönliche Vergnügen durchaus leisten konnte. Er würde jedoch auf einen angemessenen Gegenwert bestehen, wenn Irina die gewünschten Informationen haben wollte. Das Leben verteilte keine Geschenke. Die Lippen des Killers kräuselten sich zu einem spöttischen Lächeln.

~

„Sie ist da!“, Schwester Benedicta gestikulierte aufgeregt am Rande des Gemüsebeetes mit den Armen. Irina, die eben noch violette Kohlrabi-Setzlinge in einer langen Reihe in die Erde gepflanzt hatte, stand auf, wischte feuchten Dreck von der Schürze über ihrer Schwesterntracht und bog den Rücken zurück, um die verspannten Muskeln zu lockern. Die Beschwerden des ersten Trimesters nahmen allmählich ab, und Irina fühlte sich langsam wieder wohl in ihrer Haut. „Kommen Sie mit!“ Sie lächelte der Nonne entgegen und stapfte durch den weichen Boden auf sie zu. In den letzten Wochen hatten die Nonnen einen Narren an ihr gefressen, seit sie Schwester Aloysia gegenüber erklärt hatte, das Kind zur Welt bringen zu wollen. Von diesem Moment an war sie zu einer Art Maskottchen des Ordens geworden, die Mutter Oberin hatte verfügt, dass die Schwestern sie nach Kräften unterstützen sollten. So verlief Irinas Schwangerschaft nun beinahe völlig normal. Von vitaminreichem Gemüse über Folsäure- Ergänzungsmitteln bis zu einer Hebamme, die die Entwicklung des Kindes überwachte, war für alles gesorgt. Auch ein neues, größeres Zimmer hatte Irina bekommen, in dem die Geburt geplant war. Irina hatte befürchtet, das Kloster dafür verlassen zu müssen, doch die Hebamme hatte erklärt, dass Hausgeburten genauso sicher seien wie eine Entbindung im Krankenhaus. Sie war froh über die fachliche Unterstützung, auch wenn sie sich kaum mit der älteren Frau angefreundet hatte. Die Hebamme vertrat einen Typ Mensch, mit dem Irina nun auf Kriegsfuß stand, gottesfürchtig, demütig und engstirnig, deshalb beschränkte sie sich auf das Nötigste und war einfach dankbar, einen Ansprechpartner zu haben, wenn Komplikationen auftreten sollten. Schwester Benedicta hatte sich währenddessen mit rührendem Eifer bemüht, eine Leibwache zu organisieren. Aus welchem Hut sie diese letztendlich gezaubert hatte, war Irina schleierhaft, doch offensichtlich hatte sie Erfolg gehabt. Mit wachsender Neugier folgte sie der Nonne an den Beeten vorbei, bis sie den Ziergarten des Innenhofs erreichten. Im Schatten des Neubaus warteten Schwester Aloysia und die Fremde. Sie war groß, durchtrainiert, die Haut sonnengegerbt, das lockige, pechschwarze Haar zu einem kurzen Zopf gebunden. Ihre Kleidung schien aus dem Nato-Shop zu stammen, denn sie verlieh ihr etwas Martialisches. Irina erkannte auf Anhieb, dass diese Frau gefährlich sein konnte. Der Blick ihrer dunkelbraunen Augen war freundlich, enthielt aber eine unterschwellige Kälte, die sofort an Nox erinnerte. War dies der Blick von Menschen, die gemordet hatten? Sie schüttelte den Gedanken ab, denn sie hatten die beiden Wartenden erreicht. Die Fremde schenkte ihr ein ehrliches Lächeln, die Kälte war aus ihrem Blick verschwunden, und Irina schob den vorangegangenen Eindruck auf ihre Einbildungskraft. „Ich bin Miryam“, sagte sie schlicht und reichte ihr die Hand. „Freut mich, ich bin Irina.“ Verlegen wischte sie sich noch einmal die erdigen Hände an der Schürze, ohne Erfolg. Trotzdem ergriff sie lächelnd die Hand und wurde sofort in eine herzliche Umarmung gezogen, auf die Wange geküsst und gedrückt. Bevor Irina so richtig wusste, wie ihr geschah, hatte Miryam sich schon wieder von ihr gelöst: „Schwester Benedicta und ich sind gute Freundinnen. Als sie mir schrieb, dass der Orden eine Leibwache benötigt, habe ich sofort meine Sachen gepackt. Gehen wir ein paar Schritte, um uns kennenzulernen.“ Sie sprach einen leichten Akzent, den Irina nicht zuordnen konnte. Die beiden Nonnen zogen sich zurück. Ziellos schlenderten die ungleichen Frauen durch den Ziergarten, verließen den Schatten der Kirche und traten in die Sonne hinaus. „Erzähl mir von dir, was ist dir widerfahren? Schwester Benedicta hat sich nicht dazu geäußert, sie ist wirklich diskret in solchen Dingen.“ Irina schluckte, warf einen zweiten, genaueren Blick auf ihre Leibwächterin, um sich einen Eindruck von der Frau zu verschaffen, der sie gleich ihr Innerstes darlegen sollte. Wenn Miryam lächelte, waren ihre Augen von einem klaren, freundlichen Glanz erfüllt, der auf das ganze Gesicht übergriff und ihr etwas sehr Einnehmendes verlieh. Irina fand sie sympathisch. Dennoch fiel es ihr immer noch schwer, über die vergangenen Ereignisse zu reden, die ihr Leben so plötzlich aus den Angeln gerissen hatten. Noch eine Spur schwieriger war es, einer Fremden davon zu erzählen. Sie versuchte, sich so kurz wie möglich zu fassen: „Ich war das Ziel eines Auftragsmörders, den Grund kenne ich nicht. Er hat sich einen Spaß daraus gemacht, mich über Monate zu foltern, bevor mir die Flucht gelang. Ich hätte eigentlich nach der Folter sterben sollen, also hat er aus Rache jeden umgebracht, den ich kannte, und als wäre das noch nicht genug, bin ich auch noch von ihm schwanger“, sie atmete tief ein, „Ich fürchte, er sucht immer noch nach mir.“ Miryam nickte nachdenklich. Langsam folgten sie dem gepflasterten Weg durch den Ziergarten. Das Steinkraut stand in voller Blüte. Am Rand des Beetes nickten noch eine Handvoll verspäteter Blausterne in einem sanften Windhauch. „Kannst du den Auftragsmörder beschreiben? Je besser ich sein Aussehen kenne und ihn einzuschätzen weiß, desto besser kann ich dich schützen.“ Irinas Blick verdüsterte sich. Die Erinnerung aufzuwühlen war unangenehm, aber ihr war klar, dass es keinen Sinn hatte, dieses Gespräch auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. „Er nennt sich Nox“, begann sie, „Er ist recht groß, muskulös, achtet auf ein gepflegtes Äußeres. Seine Haare sind kurz, vermutlich blond. Er hat recht ausgeprägte Wangenknochen, was seinem Gesicht etwas Asketisches verleiht.“ Hm“, machte die Leibwächterin und wirkte nachdenklich, „Ich bin mir nicht sicher, aber der Name und die Beschreibung weisen auf einen professionellen Auftragsmörder hin, der in der Szene einige Berühmtheit genießt.“ „Auch das noch. Habe ich mich jetzt mit dem Mitarbeiter des Monats angelegt?“, fragte Irina mit beißendem Sarkasmus, um ihr Unwohlsein zu überspielen. Sie hatte sich in den letzten Wochen eine gewisse emotionale Distanz zu ihrer Vergangenheit angeeignet, die es ihr ermöglichte, alles aus einem ironischen Blickwinkel zu betrachten, ohne den erlittenen Schmerz erneut durchleben zu müssen. Doch manchmal gelang es ihr noch nicht so recht. Miryam lächelte flüchtig: „Dein Humor gefällt mir. Nun, wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege, dann ist mit dem Typ nicht gut Kirschen essen. Er gilt als präzise, professionell, er übernimmt gern schwierige Fälle und ist für ausgefallene Wünsche der beste Ansprechpartner.“ „Ausgefallen ist eine sehr euphemistische Umschreibung“, knirschte Irina. „Wie verhält er sich allgemein?“ Irina lachte kurz trocken auf: „Er ist furchtbar höflich. Die meiste Zeit hat er mich sogar gesiezt. So etwas hätte ich nun wirklich nicht von einem Auftragsmörder erwartet“, sie schauderte, „Wenn er persönlich wird, muss man mit dem Schlimmsten rechnen. Aber dann ist es meistens schon zu spät“, ihre Stimme war leiser worden, „Er ist ein Sadist.“ Miryam strich ihr beruhigend über den Rücken. „Tut mir leid, dass ich die Erinnerung so schnell wieder auffrische, aber ich muss ihn erkennen können, wenn er dich findet, noch besser, bevor er dich findet, selbst wenn es erst an deiner Tür geschieht. Gibt es Auffälligkeiten? Vielleicht in seinem Gang, oder hat er möglicherweise eine Narbe, eine Tätowierung, ein Muttermal?“ Irina zog die Stirn in Falten. Die verschiedenen Aspekte, die Nox‘ Persönlichkeit auszeichneten, lagen verschüttet unter dem Deckmantel des Verdrängens. Sie musste sich anstrengen, um diese Schutzbarriere wieder einzureißen. Es widerstrebte ihr, doch sie war sich der Notwendigkeit bewusst. „Hm, ein optisches Erkennungsmerkmal habe ich nie bewusst wahrgenommen. Sein Gang ist aber tatsächlich ein wenig auffällig. Er macht keine überflüssigen Bewegungen, alles geht in einander über und dann wirkt es so, als würde er-“, sie suchte nach dem richtigen Wort, „-gleiten, oder tanzen, ich kann es nicht beschreiben“, sie starrte nachdenklich vor sich auf die Pflastersteine. In den Fugen sprossen die ersten Wildkräuter, Roter Sauerklee, Kriechender Hahnenfuß, Löwenzahn, bald würde der Orden dem wilden Grün zu Leibe rücken. Ein Gedanke drängte sich in den Vordergrund: „Manchmal rollt er das „R“. Beispielsweise, wenn ein „T“ vor dem „R“ steht, oder, wenn das „R“ am Anfang eines Wortes kommt, aber nicht immer“, überlegte sie zögerlich. Miryam nickte und ließ ihren Blick über die Zierblumenbeete schweifen, blieb einen Moment lang an einer Gruppe roter Tulpen hängen, bevor sie wieder zu Irina sah: „Fällt dir noch mehr ein?“ „Man hat immer das Gefühl, dass er sich über einen lustig macht, wenn man mit ihm redet. So, als würde er seine Reaktionen bewusst kontrollieren und alles ins Lächerliche ziehen“, jetzt fielen Irina tausend Dinge auf einmal ein und alle wollten gesagt werden, „Seine Augen sind eisblau, fast leuchtend, er hat einen eisigen, stechenden Blick, mit dem er mich oft in Grund und Boden starren konnte. Er ist intelligent, kennt sich in vielen Bereichen des Lebens aus, die nichts mit dem Töten von Menschen zu tun haben. Er kann eine Gastherme reparieren und wie ein Anästhesiearzt einen peripheren venösen Zugang legen. Vor der Folter hat er immer irgendwelches Fachwissen zum Besten gegeben, um den psychischen Druck zu erhöhen. Das hat auch leider oft genug funktioniert“, sie fühlte, wie ihre Hände zu zittern begannen. Als sie weiter sprach, zitterte ihre Stimme ebenfalls: „Seine Menschenkenntnis ist beängstigend. Er besitzt ein ausgesprochen feinfühliges Gespür für die emotionalen Konflikte, die er durch seine Anwesenheit auslöst, und weiß dies für seine Zwecke zu nutzen. Außerdem ist er sehr geduldig und plant Unmögliches schon im Voraus. Ich hatte ständig das Gefühl, er könne meine Gedanken lesen, weil er immer wieder passende Kommentare geliefert hat. Als mir die Flucht gelang, konnte ich es erst gar nicht glauben, ich habe keine Ahnung, wie ich ihm entkommen bin. Irgendwie befürchte ich, dass er das alles geplant hat und nur auf den richtigen Moment wartet, um mich wieder einzufangen.“ Miryam lächelte nachsichtig: „Wie kommst du darauf?“ „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ihm ein Fehler unterläuft. Er hat mich geschätzt monatelang beobachtet und ausspioniert, damit er mir zum Kennenlernen den Tee so zubereiten kann, wie ich ihn immer trinke“, erwiderte sie mit einem Anflug von Widerwillen. „Er hat dir Tee gekocht?“ hakte Miryam ungläubig nach. Irina knurrte genervt, jetzt schwang unterdrückter Zorn in ihrer Stimme mit: „Er hat auch Frühstück gemacht und mich gezwungen, mit ihm spazieren zu gehen. Einmal hat er mich sogar gesund gepflegt, weil ich mich erkältet hatte. Oh, nicht zu vergessen: Die Verletzungen durch seine Folter, ja, die hat er hinterher ebenfalls gewissenhaft verbunden. Dieses Aas!“ Irina ballte die Hände zu Fäusten. Ihre Stimme zitterte jetzt vor Wut: „Das hat er nur gemacht, damit ich länger durchhalte, damit er sich immer wieder eine neue Demütigung ausdenken, eine neue Gemeinheit einfallen lassen, oder eine neue Foltermethode an mir ausprobieren konnte. Ich glaube beinahe, dass er mich gar nicht mehr töten wollte, weil es ihm so viel Spaß gemacht hat, mich leiden zu sehen!“ Miryam nickte beschwichtigend, aber Irina redete sich grade in Rage und wollte nicht beruhigt werden. Wie lange hatte sie ihren Zorn in sich eingeschlossen? Sie konnte sich nicht erinnern, der Wut jemals ein Ventil geboten zu haben. Sicher, sie hatte geweint, aber das war nicht vergleichbar. Der Sarkasmus, der ihre Emotionen schützen sollte, war noch zu dünn, um sie vor diesem Ausbruch zu schützen. „Ich wünschte, ich könnte ihm heimzahlen, was er mir angetan hat! Ich würde wirklich, also, ich könnte bestimmt -“, sie brach mit einem zornigen Ausruf ab, unfähig ihre Gefühle in Worte zu kleiden. Scharf sog sie die kühle Frühlingsluft ein, versuchte das Zittern ihrer Hände unter Kontrolle zu bringen und sortierte ihre Gedanken. „Ich möchte mich gerne selbst verteidigen können“, sagte sie schließlich langsam und bestimmt. Miryam warf ihr einen erstaunten Blick zu, schwieg aber. „Bitte, ich möchte wirklich lernen, auf mich selbst aufzupassen. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ich ihm noch einmal begegne und ihm erneut hilflos ausgeliefert bin. Ich will mich wehren.“ Die letzten Worte hatte sie mit grimmiger Überzeugung hervorgepresst. „Ich kann dir sicher einiges zeigen“, begann Miryam zweifelnd. „ Aber die Schwangerschaft wird dich einschränken, ich kann dir höchstens einen kleinen Teil dessen beibringen, was es zu lernen gibt, und es ist fraglich, ob es ausreicht, um einem Profi das Wasser reichen zu können.“ „Ist mir egal, bring mir bei, was möglich ist, ich will es wenigstens versuchen.“ „Bist du sicher, dass du einen Menschen ermorden könntest, wenn es so weit ist? Darauf würde es schließlich hinauslaufen.“ Die Leibwächterin blickte Irina scharf an. „Nicht irgendeinen Menschen, aber diesen ganz bestimmt“, antwortete Irina mit funkelnden Augen. Miryam schien diese Antwort zu genügen, denn sie sagte: „Also gut, fangen wir gleich an.“

Die Leibwächterin war direkt neben Irina einquartiert worden. Das Zimmer stellte ein genaues Abbild ihrer eigenen Kammer dar. In der Zelle stapelten sich mehrere Hartschalenkoffer, die den Raum kleiner wirken ließen, als er war. Miryam zog einen silbernen Koffer aus dem Stapel, warf ihn aufs Bett und drehte sich schließlich mit einer Pistole in der flachen Hand zu Irina um. „Hier“, sagte sie knapp. Unsicher und ein wenig überrumpelt nahm diese die Waffe entgegen. Sie wog nicht so viel, wie sie erwartet hätte. Die Quelle des Todes war nicht schwerer als ein Paket Zucker, stellte sie erschrocken fest. Die Überzeugung, die sie vor wenigen Minuten erfüllt hatte, wurde von Zweifeln abgelöst. „Nicht so schüchtern, das ist kein rohes Ei“, kommentierte Miryam die zaghaften Versuche Irinas, das unheimliche Stück Mord und Verderben so anzufassen, dass sie damit nirgends hinzielte und nicht versehentlich an den Trigger kam. Verfügte die Waffe über eine Sicherung? Oder gab es auch Exemplare, die so etwas nicht besaßen? Miryam schüttelte den Kopf: „Ich glaube, wir fangen besser ganz klein an. Gib mal her.“ Irina reichte ihr die Pistole zurück, froh darüber, sie wieder abgeben zu dürfen. Die Erleichterung musste ihr deutlich ins Gesicht geschrieben stehen, denn die Leibwächterin grinste schief: „Keine Sorge, wenn ich dir gezeigt habe, wie man eine Waffe auseinander und wieder zusammen baut, dann wird das Gefühl verschwinden. Also, das hier ist eine Jericho 941, das Magazin fasst 15 Schuss 9mm Munition.“ Sie benannte die einzelnen Teile der Pistole und erklärte ihre Funktion, während sie die Waffe zerlegte. Irina war überrascht, dass nur sieben Fragmente nötig waren, um zusammen eine Apparatur zu bilden, die fünfzehn Mal den Tod bringen konnte. Was hatte sie erwartet? Das Sterben an sich war schon immer eine deprimierend simple Angelegenheit gewesen. Sie hatte es doch so oft selbst erlebt, wenn sie die verstörten und traumatisierten Hinterbliebenen getröstet hatte, weil ein Unfall einen geliebten Menschen aus dem Leben riss. Warum war sie jedes Mal aufs Neue schockiert, wenn das Leben seine offensichtliche Vergänglichkeit demonstrierte? Der Tod lauerte überall auf seine unvorsichtigen Opfer. Bisher hatte Irina nur versucht, ihm auszuweichen. Jetzt war sie im Begriff, auf die andere Seite zu wechseln. Dies war ihre erste Chance, sich aktiv zur Wehr zu setzen und für ihre Überzeugungen einzustehen, sich nicht mehr zum Vergnügen eines anderen Menschen herumschubsen zu lassen. Niemals wieder sollte Nox, oder irgendjemand sonst, etwas gegen ihren Willen von ihr verlangen können. Es wurde Zeit, aus dem Schatten ins Licht zu treten und eine klare Position zu beziehen. „Wie baue ich die Waffe wieder zusammen?“, wollte sie wissen. „Willst du es selbst versuchen? Zuerst die Feder in den Lauf einlegen. Genau.“ Irina setzte die Jericho zusammen, was ihr verblüffend leicht fiel. Jetzt fühlte sich die Waffe schon weniger unheimlich an. Sie zerlegte sie die halbautomatische Selbstladepistole erneut und baute sie noch einmal zusammen. Miryam sah aufmerksam zu, fragte Namen und Funktion der einzelnen Teile ab und schien erfreut, dass Irina sich alles gemerkt hatte. Sie wiederholten die Übung mit einer Beretta 92 und einer Glock. Es gab kaum nennenswerte Unterschiede. Zuversicht stieg in Irina auf. Eine Waffe war doch kein Mysterium, es gab nicht viel über das Werkzeug des Todes zu lernen, das so leicht und angenehm in der Hand lag, wenn man seine Vorurteile überwunden hatte. „Wann bringst du mir bei, wie man schießt?“, wollte sie wissen. „Wenn du die Waffe in unter einer Minute auseinander- und wieder zusammenbauen kannst.“ Die Kirchenglocken riefen zur Vesper. Erstaunt stellte Irina fest, dass es Zeit für das Abendgebet war, und erhob sich seufzend. „Wir müssen zur Andacht, und danach gibt es Abendbrot“, sagte sie mit einem Anflug von Bedauern. „Dann machen wir morgen weiter“, grinste Miryam, der Irinas Tonfall nicht entgangen war.

~

Die Meldeadresse des Killers bestand aus einem äußerlich baufälligen Haus aus roten Ziegelsteinen. Von außen vergitterte, blinde Fenster hinderten Obdachlose und randalierende Jugendliche, ins Innere einzudringen, ob nun körperlich oder nur mit Blicken, sodass die Räumlichkeiten ihn wie immer unberührt und leicht muffig empfingen. Bis auf eine dünne Staubschicht, die von der langen Abwesenheit des Bewohners zeugte, hatte sich nichts verändert. Nox stellte in allen Zimmern die Fenster auf Kippstellung, um die abgestandene Luft zu erneuern. Der Briefkasten war leer, seine Post wurde in der Kanzlei zugestellt. Das Haus war für ihn der Kompromiss aus Notwendigkeit und pragmatischem Nutzen, hier lebte die Identität des Rechtsanwalts, und Nox hatte nur wenige Räume eingerichtet. Das Erdgeschoß war leer, nur die Küche enthielt eine aus der Mode gekommene Spüle und Unterschränke. Den Kühlschrak musste der Killer erst wieder ans Netz hängen, bevor er gluckernd zum Leben erwachte. Eine schmale Treppe führte in den ersten Stock und zum Schlafzimmer, das im Grunde aus einem Feldbett und einem Stuhl für Kleidung bestand. Beides abgedeckt mit einem leinenen Tuch, damit Nox nicht erst Staub wischen musste, wenn er hier her kam. Nur dem Bad hatte er besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Neben dem üblichen Interieur beinhaltete der geflieste Raum eine abwaschbare Arztliege, für den Fall, dass er einmal medizinische Hilfe benötigte. Bis jetzt war das noch nicht vorgekommen. Nox beendete seinen Rundgang und wandte sich dem Keller zu. Dieser stellte das genaue Gegenteil der darüber liegenden Etagen dar. Sämtliche Möbel, die ein Haushalt besitzen mochte, stapelten sich hier in mehrfacher Ausführung und moderten in der kühlen Feuchtigkeit vor sich hin. Einem unsichtbaren Pfad folgend, schlängelte Nox sich durch das Gerümpel, duckte sich unter Holzlatten hindurch, die quer auf einem instabil wirkenden Haufen aus Rattanstühlen lagen und kletterte über seitlich angelehnte, unverarbeitete Rigipswände, die verschiedenen Schimmelpilzen einen Lebensraum boten. Vor der Rückwand des Kellerraumes erhob sich ein Berg aus Bauschutt, der nahtlos aus dem chaotischen Gerümpel entsprang. Für das Auge eines unerwünschten Betrachters war nicht zu erkennen, dass der Berg an einem Regal endete, welches gewissenhaft präpariert und so befestigt war, dass dahinter ein schmaler Gang übrig blieb, der an einer schmiedeeisernen Tür endete. In dem schmalen Durchgang klappte Nox eine rostige Revisionsklappe herunter, dahinter erwachte ein Touchpad blinkend zum Leben und gewährte dem Killer Zutritt zu seinem privaten Besitz, nachdem er einen zehnstelligen Code eingegeben und mit seinem Fingerabdruck bestätigt hatte. Gereinigte, trockene Luft strömte aus der geöffneten Tür, bis er sie hinter sich zuzog. Seine Schritte klangen hohl auf dem Metallboden des Tresorraumes, der etwa 10m² maß. Das Belüftungssystem arbeitete leise summend, Licht sprang an, doch der Killer hatte sich schon im Dunkeln zu Recht gefunden. Er trat an ein schmales Regalbrett heran, das die wenigen Gegenstände beinhaltete, die einen persönlichen Wert für ihn besaßen. Viel war es nicht. Ein gerahmtes Familienfoto, das eine jugendliche Ausgabe von Nox mit seinen Eltern zeigte, die erste Handfeuerwaffe, die er benutzt hatte, ein verwaschenes Freundschaftsarmband aus Kindertagen. Das Geschenk einer Freundin, die Nox zu einer wertvollen Erkenntnis verholfen hatte. Marie war die Erste gewesen. Neben dem Armband platzierte er nun Irinas CD und setzte sich in den ledernen Sessel, um seine Sammlung zu betrachten. Diese Gegenstände repräsentierten seine Herkunft, Beruf, Vorlieben und nun auch seine Fehlbarkeit. Gleichzeitig standen sie für Menschen, also Schmetterlinge, die er konserviert hatte; bis auf einen, und dieser war noch nicht so weit, schien immer neue Metamorphosen zu beginnen, sich immer weiter zu verändern, ohne dass ein Ende, ein endgültiges Ergebnis greifbar wurde. Nox zollte Irina auf seine Weise Respekt. Indem sie auf diesem Regalbrett anwesend sein durfte, gab der Killer zu, dass sie ihn überrascht hatte. Ihm war ein Fehler unterlaufen, und er akzeptierte es. Welche Lehre sollte er daraus ziehen? Eine Weile hing er seinen Gedanken nach, doch er kam zu keinem sinnvollen Schluss. Er würde sich wohl eingehender mit der Frage auseinandersetzen müssen. Bevor er den Raum verließ, kontrollierte er die Waffen, die er sich im Laufe der Zeit zugelegt hatte und die hinter schwenkbaren Wänden hingen. Morgen würde er die Kanzlei auflösen.

Die Tiefgarage des riesigen Büro-Komplexes roch wie alle Tiefgaragen nach dieser charakteristischen Mischung aus Abgasen, verdunstetem Kraftstoff und abgestandener Luft. Nox‘ Schritte hallten gebrochen von den kahlen Betonwänden wider. Sein Mantel wehte hinter ihm her, gewährte aber keinen Blick auf die Waffe, die er heute bei sich trug. Im Fahrstuhl wählte er die achte Etage aus und begann eine harmonische Melodie vor sich hin zu pfeifen. Mit einem hellen Gong glitten die Türen lautlos auseinander. Nox betrat einen langen beleuchteten Flur, der in beide Richtungen zu einer Vielzahl von Büroräumen führte und nach billigem Teppichboden, verbrauchter Luft und Kopiergeräten roch, die in regelmäßig angeordneten Nischen auf dem Flur standen. Er wandte sich nach rechts und folgte dem Gang, der nach mehreren Kurven in einer Sackgasse endete. Die letzte Milchglastür zeigte ein Firmenlogo und darunter die Aufschrift:

Rechtsanwaltskanzlei Radek Thaddeus Mehlkorn Fachanwalt für Steuerrecht Sergej Wolf Fachanwalt für Steuerrecht

Nox drückte die Türklinke herunter und trat ohne Hast hindurch. Das Büro bestand aus einem einzigen, riesigen Raum, ein dicker, bordeauxroter Teppich verschluckte seine Schritte, links stand ein Schreibtisch mit Blick zur Tür, wie ein Empfangstresen. Die Fensterfront geradeaus gewährte den Blick auf ein Stück blauen Himmels und weitere Bürogebäude. In der Mitte befand sich ein runder Konferenztisch, der Platz für zehn Personen bot, doch er war unter einem Haufen von Akten begraben, was ihn kleiner wirken ließ, als er war. Es war niemand zu sehen, Nox blickte sich misstrauisch um, sein Blick blieb an den drei Regalreihen hängen, die rechts, hinter dem Konferenztisch in den Raum ragten und ein kleines Separee abgrenzten, in dem sein eigener Schreibtisch stand, wenn er in auftragsschwachen Zeiten die Kanzlei besuchte. Nox schätzte die Nische, weil er von dort aus den ganzen Raum überblicken, selbst aber nicht auf Anhieb gesehen werden konnte. Leise Stimmen drangen aus einer der Regalreihen. Der Killer erkannte die Stimme seines Partners und eine fremde weibliche Stimme. Nox sah seine Vermutungen bestätigt. Er warf die Tür, die er immer noch in der Hand hielt, krachend ins Schloss. Augenblicklich verstummte das Gespräch, Akten raschelten, und der Bückling trat aus der Regalreihe. Er war klein, kahlköpfig und dürr, die dicke Brille, die er trug, verlieh ihm Ähnlichkeit mit einem glupschäugigen Fisch. Bei Nox‘ Anblick erbleichte er. „Radek, was für eine Überraschung“, er lächelte krampfhaft, während er auf ihn zueilte, um ihm die Hand zu reichen. Als er sich etwa auf der Höhe des Konferenztisches befand, verschränkte Nox die Arme und fragte bedrohlich laut: „Wer ist da noch?“ Sein fischäugiger Partner blieb wie angewurzelt stehen, drehte sich halb zu den Regalen zurück, bevor er antworte: „Niemand, nur eine Praktikantin“, dann lächelte er unterwürfig. „Eine Praktikantin?“ wiederholte Nox mit eisigem Ton und bedachte den kleinen Mann mit einem vernichtenden Blick, unter dem dieser regelrecht zu schrumpfen schien. „Sie arbeitet unentgeltlich, es ist nur eine Praktikantin“, stotterte er verlegen und deutete eine kriecherische Verbeugung an, als könne er sich dadurch Nox‘ Wohlwollen verdienen. „Ach, ist dem so? Ruf sie her“, zischte der Killer. „Linda, kommst du bitte einmal?“, rief der fischäugige, kleine Mann mit brüchiger Stimme. Aus der Regalreihe trat eine junge Frau. Ihr Rock war eine Spur zu knapp und sah zerknittert aus, die Bluse war ein wenig tiefer ausgeschnitten als nötig, was einen hervorragenden Blick auf ihre üppige Oberweite gestattete. Rotblonde Locken umflossen ihr zartes Gesicht wie ein wirbelnder Wasserfall. Nox verzog die Lippen zu einem raubtierhaften Grinsen. Das Mädchen mochte vielleicht noch zur Schule gehen, oder grade erst die Schule beendet haben. Sie trug einen Stapel loser Unterlagen elegant in der Armbeuge, lud sie auf dem Konferenztisch ab, als sie ihn passierte und näherte sich den beiden ungleichen Männern. Sie trug keine hochhackigen Schuhe, sondern Ballerinas, die bei jedem Schritt in dem dicken Teppich zu versinken schienen. Ihr Blick war offenherzig und vorurteilsfrei. „Guten Morgen“, grüßte sie mit einem Lächeln. Sie musste den Kopf fast in den Nacken legen, so gravierend war der Größenunterschied zwischen dem Killer und dem Mädchen, „Ich bin Linda, ich mache ein Praktikum in ihrer Kanzlei.“ „Ich fürchte, ich muss Ihnen mitteilen, dass Sie ihr Praktikum nicht fortsetzen können“, entgegnete Nox ebenso freundlich. Ihr Lächeln wich einem enttäuschten Ausdruck. Der Bückling strich sich nervös über den Kopf, als wollte er die ausgefallenen Haare sortieren, doch er traute sich nicht, dem Killer zu widersprechen. „Habe ich etwas falsch gemacht? Das tut mir leid.“ „Ich bin sicher, dass sie immer zur vollsten Zufriedenheit meines Partners gearbeitet haben, leider hatte er nicht das Recht, Sie einzustellen, ohne mich darüber in Kenntnis zu setzen, und deshalb entlasse ich Sie. Nehmen Sie es sich nicht zu Herzen, so ist die Arbeitswelt nun einmal.“ „Ich verstehe“, antwortete sie verwirrt. „Auf Wiedersehen“, lächelte der Killer und öffnete der jungen Frau die Tür. Diese blinzelte ihn zerstreut an und verließ das Büro mit einer gemurmelten Verabschiedung. Das darauf folgende Geräusch des zufallenden Schlosses klang wie das Zuschnappen einer Mausefalle. Der Bückling war kreidebleich geworden. Er schlotterte am ganzen Körper. Nox trat einen drohenden Schritt auf ihn zu. „Wie lange arbeitet sie tatsächlich schon hier?“, wollte er wissen. „Radek, es ist nicht so, wie du denkst“, begann sein Partner und hob abwehrend die Hände. „Falsche Antwort“, sagte Nox, zog bedächtig langsam seine Waffe und schoss einen Betäubungspfeil ab. Ein leises „Plopp“ ertönte. Das weiße Plastikröhrchen, das ohne den charakteristischen Puschel am Ende mehr Ähnlichkeit mit einer Spritze als mit einem Pfeil hatte, blieb zitternd in der Schulter des kleinen Mannes stecken. Er gab einen erschrockenen Schmerzensschrei von sich, riss die Nadel aus seiner Schulter und starrte den Killer mit Todesangst an. Seine Augen quollen noch mehr hervor, als sie es ohnehin schon taten. „Was ist das?“ Seine Stimme kippte hysterisch. „Ein lähmendes Gift“, erklärte Nox bereitwillig, „Der erste Pfeil enthält grade genug, um dir für einige Stunden Qualen zu bereiten. Wenn du mir sagst, was ich hören will, wird dir der zweite, tödliche Pfeil erspart bleiben.“ „Das kannst du doch nicht machen, Radek, wir sind doch Partner“, bettelte der Bückling. „Du verschwendet deine Zeit. Ich bin sicher, dein kleines Busenwunder ist jeden Moment wieder zurück, weil ihr eingefallen ist, dass sie ihre Sachen vergessen hat“, Nox lächelte sardonisch. Dem kleinen Mann schienen die Augen aus den Höhlen fallen zu wollen, er sackte in die Knie und atmete schwer. Das Gift entfaltete bereits seine lähmende Wirkung und bereitete ihm sichtliche Probleme. „Sie weiß nichts. Bitte, sie war nur ein Zeitvertreib, sie hat keine Ahnung, was wir hier gemacht haben. Lass sie gehen“, seine Arme sanken kraftlos zu Boden und der Oberkörper sackte ein Stück nach vorn. „Bevor du bewusstlos wirst, hätte ich gerne noch die Details deiner Wette gewusst und die Namen der Interessenten, die auf meinen Rang in der Szene scharf sind“, erinnerte ihn Nox kalt an das Wesentliche und legte betont langsam einen neuen Pfeil in die Betäubungspistole ein. Sein Partner verfolgte dies mit Panik in den grotesk hervorstehenden Augen, er hustete, das Atmen fiel ihm immer schwerer. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. „Auf meinem Rechner findest du alles, was du wissen musst. Ich hatte die Daten schon vorbereitet, um sie dir zu schicken. Bitte, ich will nicht sterben, du hast doch sicher-“, er japste nach Luft, „Du hast doch sicher ein Gegengift dabei, oder?“ Nox antwortete nicht, sah ihm ernst in die Augen und lud die Waffe durch. Schweißperlen tropften von der Stirn des Bücklings, während er langsam immer weiter nach vorne sackte. „Ich will nicht sterben, bitte, Radek. Wir sind doch Freunde“, röchelte er undeutlich. „Du bist entlassen“, sagte Nox sanft und feuerte ein zweites Mal auf den Mann, der vor ihm auf dem Boden kauerte. Der Pfeil traf ihn knapp unterhalb des Schulterblattes. Sein Partner wollte noch etwas sagen, aber es ging in einem heiseren Röcheln unter, als er mit dem Gesicht im Teppich in einer verkrümmten, bemitleidenswerten Pose liegen blieb. Der Killer verharrte neben der Tür und wartete. Einige Minuten verstrichen, bis sich ein schmaler Schatten auf der anderen Seite der Milchglastür abzeichnete und ein zaghaftes Klopfen erklang. Nox riss die Tür auf, ergriff mit der anderen Hand die Lockenpracht des Mädchens, zog sie ins Büro, wirbelte sie einmal um ihre Achse, sodass er nun hinter ihr stand und den schmalen Körper an sich pressen konnte und warf mit dem Fuß die Tür wieder ins Schloss, während sie noch einen erschrockenen, halblauten Schmerzensschrei ausstieß. Dann legte sich eine Hand des Killers über Nase und Lippen des Mädchens und zwang sie zum Schweigen. „Wenn du atmen willst, hörst du mir zu und bist still. Du siehst, dass ich grade meinen Partner entlassen habe. Das sollte dir die Ernsthaftigkeit deiner Lage verdeutlichen“, sagte Nox mit stoischer Ruhe. Sie zuckte zusammen und der Killer knurrte begeistert. Langsam ging ihr die Luft aus und sie begann zu weinen. Nox erlaubte ihr einen einzelnen Atemzug, den sie gierig in die Lungen saugte, bevor er weiter sprach: „Ich will wissen, wie lange du hier arbeitest, wie viel er dir bezahlt hat, was du über unser Tätigkeitsfeld weißt, und wenn es noch andere relevante Dinge gibt, die ich jetzt nicht genannt habe, dann will ich sie auch wissen.“ Sie nickte heftig, der eine Atemzug war schon verbraucht. Nox gab sie frei und stieß sie zu Boden, das Mädchen hustete und japste nach Luft. Sie war schlau genug, nicht zu schreien, aber sie schluchzte hemmungslos, während sie auf die Leiche des Bücklings starrte. „Rede“, forderte Nox scharf. Ihr Blick irrte durch den Raum und verharrte auf den Stiefeln des Killers. „Ich“, begann sie zaghaft, „Ich habe doch nur meine Tasche vergessen“, beteuerte sie verstört. „Beantworte meine Fragen, oder muss ich noch deutlicher werden?“ „Nein! Es tut mir leid, bitte bestrafen Sie mich nicht! Ich gebe ja zu, dass ich den Code geknackt habe.“ Sie hielt schützend die Arme über den Kopf, als erwarte sie Schläge auf das Geständnis. Nox zog gedanklich eine Augenbraue in die Höhe. „Was soll das heißen: „ausversehen den Code geknackt“? Wie kann man das „ausversehen“ schaffen?“ „Ich habe versucht die Registernummerierung auswendig zu lernen und dabei sind mir Unregelmäßigkeiten aufgefallen. Ich habe die Akten untersucht und festgestellt, dass es da Ungereimtheiten gab. Die meisten Akten sind nur Dummys, erfundene Rechtsstreitigkeiten, die es nie gab und das Geld wurde immer von drei Konten hin und her geschoben. Mit den unregelmäßigen Registernummern war es etwas schwieriger, da gab es beträchtliche Zahlungseingänge und –Ausgänge, aber es war jedes Mal ein anderes Konto angegeben, das nach Abschluss der Fälle wieder aufgelöst wurde. Bitte, bringen Sie mich nicht um, bitte.“ Die letzten Worte gingen in unkontrolliertes Schluchzen über. Nox ließ sich neben ihr auf ein Knie nieder und legte eine Hand auf ihre Schulter. Sie fuhr unter der Berührung zusammen, als habe er ihr Gewalt angetan. Sein Gesicht war dem ihren sehr nah, als er weitersprach: „Was glaubst du, wofür die Zahlungen getätigt wurden?“, fragte er sanft. Sie versteifte sich, hielt inne und blickte starr auf den bordeauxroten Teppich. Nox sog scharf die Luft ein. „Ich kann also davon ausgehen, dass du weißt, welchem Zweck diese Kanzlei eigentlich dient“, stellte er fest. Das Mädchen antwortete nicht, stattdessen schloss sie die Augen und ließ den Kopf hängen. „Es tut mir leid“, hauchte sie. Nox ignorierte ihre Entschuldigung: „Wie lange arbeitest du hier? Ich wiederhole mich nur ungern.“ „Sechs Monate, drei Wochen, einen Tag und heute“, antwortete sie tonlos, „Ich habe kein Geld für die Arbeit bekommen.“ „Was weißt du über die Wette?“ „Herr Mehlkorn hat einen fünfstelligen Betrag darauf gesetzt, dass Sie-“, sie geriet ins Stocken und begann wieder zu stottern, „ Er hat gegen Sie gewettet.“ Nox lachte kurz und gehässig. Unter dem Geräusch zuckte das Mädchen erneut zusammen. „Was weißt du über die Interessenten?“ „Es sind drei Männer aus Ihrem Gewerbe, die für ihre Brutalität und Rücksichtslosigkeit bekannt sind. Die Namen habe ich nicht mitbekommen, Herr Mehlkorn bewahrt diese Informationen auf einem einfachen Notizblock in seiner Schublade auf.“ Der Killer bedachte sie mit einem abschätzigen Blick. „Was ist mit den Unterlagen auf dem Tisch?“ „Herr Mehlkorn wollte, dass ich die verjährten Fälle schreddere, aber wir waren mit der Sichtung des Archivs noch nicht fertig.“ „Interessant. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir in den letzten Jahren schon mal alte Fälle vernichtet hätten. Wieso also jetzt?“ „Ich weiß es nicht. Er hat mir nie viel gesagt, ich habe immer nur getan, was mir aufgetragen wurde, bitte glauben Sie mir!“ „Wie alt sind Sie?“ „Siebzehn.“ „Wie sind Ihre familiären Verhältnisse?“ „Ich habe keine Familie, Herr Mehlkorn war mein Gönner. Ich wohne seit drei Jahren bei ihm.“ Nox lächelte dünn. „Glauben Sie, dass sie in der Lage sind, dieses Chaos aufzuräumen?“ Sie hob den Kopf und blickte den Killer aus großen, verheulten Augen an. „Ja“, sagte sie verwirrt. Nox stand auf, trat an die Leiche heran und zog ihr das Smartphone aus der Hosentasche. Der Kopf des leblosen Körpers sackte zur Seite, die glasigen Augen starrten das Mädchen plötzlich vorwurfsvoll an. Sie wandte schnell den Blick ab. „Ich will die Akte des letzten noch nicht abgeschlossenen Falls haben, die Dummys schaffen Sie zu dem Bückling nach Hause, die echten Fälle in meinen Vito. Sie haben 48 Stunden Zeit.“ Er warf ihr das Smartphone zu. Sie griff ins Leere und klaubte das Telefon vom Boden. „Sie kennen meine Rufnummer?“ wollte er wissen. Sie nickte zögerlich, stand endlich auf, wischte sich das Gesicht trocken und versuchte zuversichtlich auszusehen. Nox hielt ihr den Autoschlüssel hin, aber als sie danach griff, packte er ihre Hand und zog sie zu sich heran. „Damit wir uns verstehen: Sie sind auf Probe eingestellt. Ich habe Zugriff auf den GPS-Sender des Telefons. Wenn Sie nicht beim dritten Freizeichen abheben, oder das GPS Sie in einem Bereich ortet, wo Sie nichts zu suchen haben, dann werde ich Sie töten. Langsam und qualvoll, nicht schnell und schmerzlos wie meinen ehemaligen Partner.“ Das Mädchen erbleichte. Nox wandte sich ab und steuerte den Schreibtisch des Bücklings an. „Was stehen Sie da herum, wo bleibt die Akte?“ Sie fuhr zusammen wie ein geprügelter Hund und beeilte sich die Fall-Akte aus dem hintersten Regal zu suchen. Nachdem sie die Mappe zum Schreibtisch gebracht hatte, stand sie einen Moment lang unschlüssig daneben. „Die Zeit läuft nicht rückwärts, Sie haben noch 47 und eine Dreiviertelstunde, um das Büro zu räumen.“ Sie schluckte schwer. „Wollen Sie mich nicht? Ich meine, so, wie Herr Mehlkorn?“, ihre Stimme bebte vor Angst, doch sie schien diese Frage zwanghaft stellen zu müssen. Ihre Hand war schon unbewusst zum Saum ihrer Bluse gewandert. Nox blickte auf, in seinen Augen blitzte es kurz. Sein Blick wanderte über den zierlichen, wohl proportionierten Körper des Mädchens, blieb an der üppigen Oberweite hängen, dann schüttelte er den Kopf. „Nein Linda, Sie würden zerbrechen“, sagte er langsam und süffisant, „Das hebe ich mir für meine Klienten auf. Sie hingegen würden all die unregelmäßigen Registernummern vergessen, und das wäre höchst bedauerlich, denn dann hätte ich keine Verwendung mehr für Sie.“ Ihre Augen weiteten sich, als sie begriff. Sie fuhr herum, unschlüssig, wo sie anfangen sollte, dann verschwand sie zwischen den Regalreihen, wo sie die Dummys von den echten Fällen zu trennen begann. Nox wandte sich dem Schreibtisch zu. Er durchsuchte die einzelnen Fächer und Schubladen sorgfältig, doch erst in der letzten wurde er fündig. Der Killer schüttelte seufzend den Kopf. Der Bückling hatte sich zu lange zu sicher gefühlt, sich an die Routine gewöhnt und die gebotene Vorsicht vergessen. Es war gut, dass Nox ihn entlassen hatte, bevor ihm noch ein wirklich gravierender Fehler unterlaufen war. Ein einzelner, weißer Notizblock lag in dem Fach. An den Seiten quollen lose Zettel heraus. Der Killer studierte die Aufzeichnungen und lächelte abfällig. Sein ehemaliger Partner hatte 98500 Euro darauf gewettet, dass Nox sich an Irina die Zähne ausbeißen würde. Der glatzköpfige Händler hatte das Gebot entgegen genommen und eine Quittung ausgestellt. Nox hätte gerne mehr über die anderen Bieter der Wette erfahren, doch darüber gab die Quittung keine Auskunft. Die Liste mit den Namen seiner Konkurrenten würdigte er nur eines flüchtigen Blickes. Das Busenwunder hatte nicht gelogen, die Kandidaten waren ihm bekannt, doch sie genossen in der Szene einen zweifelhaften Ruf als Maulhelden, obwohl sie ihr Handwerk im Grunde passabel auszuführen wussten. Die Transaktionen, die auf die Liste folgten, waren dafür umso interessanter. Der Bückling hatte jahrelang die Zinsen der angelegten Erlöse in die eigene Tasche gewirtschaftet. Nox lächelte dünn, als er die Beträge aufaddierte. Sein ehemaliger Partner hätte sich schon vor Jahren absetzen können, aber er war zu gierig geworden und hatte dadurch seine Chance auf ein Leben in Luxus und Dekadenz verpasst. Mit Geld verhielt es sich ähnlich wie mit dem Erfolg, es stieg den Menschen zu Kopf und je mehr sie davon hatten, desto schlimmer quälte sie das Verlangen nach mehr. Für Nox war Geld nur ein lästiges Tauschgut, das man besitzen musste, um zu bekommen, was man wollte. In seinem Fall beschränkte sich dies auf die Ausrüstungsgestände für die Arbeit, oder damit verbundene Zerstreuung, wie die regelmäßigen Besuche im Bordell. Ein Leben ohne den Nervenkitzel konnte der Killer sich nicht vorstellen. Immerhin war nun auch klar, weshalb sein ehemaliger Partner die alten Akten hatte vernichten wollen. Er war offenbar davon ausgegangen, dass Nox auf diese Weise den Betrug nicht entdeckt hätte, doch der Killer hatte ein Hintertürchen in das Aktensystem eingebaut, indem er einen Code in den Berichten versteckte. Sein gutes Gedächtnis befähigte ihn dazu, die Berichte aller seiner Fälle aus der Erinnerung abzurufen und damit konnte er auch die Konten wieder rekonstruieren. Diesen Teil hatte das Busenwunder nicht entdeckt. Dennoch war es bemerkenswert, dass sie nach nur sechs Monaten die Aktensortierung durchschaut hatte und dreistellige Primzahlen im Kopf behielt. So ein Talent brach liegen zu lassen, war eine unverzeihliche Schande. Die Tatsache, dass der Bückling dies übersehen hatte, bestätigte nur seine allgemeine Nachlässigkeit, mit der er die Firma früher oder später in den Ruin getrieben hätte. Zu seinem Vorteil hatte Nox ihn entlassen, bevor er sich eines ernsthaften Vergehens schuldig machte, andernfalls hätte der Killer ihm ein langsames und unangenehmes Ableben spendiert. Loyalität wuchs leider nicht auf Bäumen, und durch Angst allein ließen die Menschen sich nicht kontrollieren. Wirklich bedauerlich. Das Geräusch fallender Unterlagen, gefolgt von einem unterdrückten Schluchzen, riss Nox aus seinen Gedanken. Er durchquerte den Raum und fand Linda im Gang zwischen zwei Regalreihen auf dem Boden hockend, umgeben von einem unordentlichen Haufen Akten, die ihr wohl herunter gefallen waren. Sie hatte das Gesicht in den Händen vergraben und weinte. Als sie den Killer bemerkte, starrte sie ihm zitternd und mit leerem Blick entgegen. Er trat näher und bot ihr eine Hand an, um ihr aufzuhelfen. Sie rührte sich nicht. „Ich kann mich nicht mehr erinnern“, sagte sie tonlos. Nox schenkte ihr ein sanftes Lächeln. „Stehen Sie erst einmal auf, schön. Sie haben einen Black-Out, das ist nicht verwunderlich. Ich habe Ihren Ernährer umgebracht, Sie bedroht und ein Ultimatum gestellt. Da sind vorübergehende Gedächtnislücken normal. Schließen Sie die Augen und atmen Sie tief durch.“ Sie folgte der Aufforderung, wenn auch sichtlich verunsichert und ängstlich. „Woran erinnern Sie sich noch von dem Tag, an dem Sie das System durchschaut haben?“ „An dem Tag gab es einen Sturm. Der Regen trommelte richtig laut gegen das Fenster, und ich hatte mir eine Tasse Kakao gekocht, weil die Heizung gewartet wurde und ausgeschaltet worden war.“ „Erzählen Sie weiter.“ „Herr Mehlkorn hatte neue Regale bestellt. Ich sollte die Akten sortieren und mit dem elektronischen Archiv abgleichen, eine Art Inventur. Dabei habe ich versucht, die Fälle zu studieren, weil ich hoffte, dass er mich irgendwann als Sekretärin einstellen würde. Dann hätte ich echtes Geld verdienen können, und ich hätte nicht immer fragen müssen, wenn ich etwas brauchte. Aber manche Daten im Rechner passten nicht zu den Angaben auf den Papieren. Ich war verwirrt, ließ mir aber nichts anmerken, weil ich Angst hatte, dass Herr Mehlkorn mit mir schimpfen könnte. Er hat oft zu mir gesagt, dass ich dumm und naiv sei und ohne ihn niemals alleine in der Welt zurecht käme“, sie holte stockend Luft, bevor sie weitersprach, „In der Mittagspause musste ich mit ihm in den Keller gehen. Er hat da so einen Raum“, sie schluckte bei der Erinnerung, „An der Wand hängt ein Matheposter, mit lauter Formeln und Listen drauf, das sehe ich mir immer an-“, sie brach ab, ihr Atem stockte, „Und dann habe ich es verstanden, es war ganz leicht, immer wenn eine dreistellige Primzahl in der Registernummer auftaucht, ist es ein richtiger Fall, alle anderen sind nur Dummys, aber jetzt erinnere ich mich nicht mehr an die Primzahlen“, sie riss die Augen auf und starrte den Killer durch einen Tränenschleier an, „Ich konnte sie alle auswendig, ich lüge nicht“, ihre Wort gingen in ein leises Schluchzen über, ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen, dir ihr über die Wangen kullerten. „Ihre analytischen Fähigkeiten sind offenbar hervorragend, Sie werden noch einmal sehr nützlich sein.“ Bei dem Lob hielt das Mädchen perplex inne, vergaß zu weinen, senkte schniefend und verlegen den Blick. „Drucken Sie sich eine Liste aus und machen Sie weiter“, Nox klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter, „Ich habe etwas zu erledigen, rufen Sie mich an, wenn ein Problem auftritt.“ „Was ist mit Herrn Mehlkorn? Also mit der Leiche?“, fragte sie zaghaft. Der Gedanke, alleine mit einem toten Menschen in einem Raum zu sein, schien ihr Angst zu machen. „Darum wird sich jemand anderes kümmern“, entgegnete Nox knapp und verließ das Büro. Er wählte die Treppe und stieg drei Stockwerke nach oben, bis er das Dach erreichte. Im Windschatten eines Vorbaus zückte er sein Smartphone und wählte die Privatnummer des Händlers. Es dauerte sechs lange Freizeichen, bis am anderen Ende jemand abnahm, aber der Telefonpartner sagte kein Wort. „Herr Meyer mit y, hoffe ich doch?“ sagte Nox gedehnt. Jemand räusperte sich. „Radek, mein Lieber, wie geht es dir?“ die Stimme des Händlers schwankte vor lauter Nervosität. „Ich habe von deiner Wette gehört und würde mich gerne beteiligen.“ „Die Wette? Oh, die ist nicht von mir. Also, ich habe zwar die Gebote entgegen genommen, aber ich wurde von den Initiatoren gefragt, weil ich doch in der Vergangenheit schon häufiger Wetten ausgerichtet habe“, er hüstelte verlegen. „Aber natürlich doch, ich würde dir niemals etwas anderes unterstellen“, grinste Nox, „Du kannst das Gebot von Thaddeus auf meinen Namen übertragen. Selbstverständlich wette ich auf meinen Sieg.“ Am anderen Ende der Leitung machte sich Erleichterung breit. „Ach Thaddy, ja, ich habe ihn gewarnt, das war nicht grade höflich, gegen den eigenen Partner zu wetten“, der Händler fasste sich allmählich. „Ich musste ihn entlassen“, kommentierte Nox mit gespieltem Bedauern. „Tatsächlich?“ jetzt war auch die Neugier des Händlers geweckt. „Es gab diverse Gründe“, verriet der Killer mit einem wohl überlegten Zögern in der Stimme, dann gab er ihr einen geschäftstüchtigen Klang, „Ich benötige eine Abholung und eine Lieferung, die Bestellliste schicke ich im Anschluss.“ „Selbstverständlich, mein Lieber. Ich wollte mich auch noch mal für die kleine Gefälligkeit bedanken. Der Liebhaber meiner Frau ist jetzt so handzahm, dass ich die beiden bedenkenlos in den Urlaub schicken kann, wenn ich mal wichtige geschäftliche Angelegenheiten zu erledigen habe und die Alte nicht Zuhause rumhocken soll.“ „Das freut mich zu hören.“ „Also eine Abholung und eine Lieferung? Wie lautet die Adresse?“ „Beides in der Kanzlei.“ Der Händler schwieg einen Moment, er schien begriffen zu haben, was es mit der „Entlassung“ auf sich hatte. „Schön, ich schicke umgehend jemanden vorbei“, er räusperte sich erneut, seine Stimme klang belegt. Nox kostete den Gedanken voll aus, dass der Händler seinen ehemaligen Partner gemocht hatte. In den nächsten Wochen würde sein Gesprächspartner die ganze Szene von der „Entlassung“ unterrichten und ein abschreckendes Beispiel für die Konkurrenz liefern. Der Killer musste keinen Finger dafür rühren, um die Geschichte in Umlauf zu bringen. Die Verabschiedung fiel äußerst knapp aus, Nox lauschte auf das Geräusch der unterbrochenen Leitung, bevor er die Bestellung aus dem Kopf notierte und abschickte. Anschließend trat er an den Rand des Daches, legte die Arme auf die Brüstung und blickte in die Tiefe. Mit dem Busenwunder würde er sich noch eingehend befassen müssen, bevor er sich sicher war, dass sie nach seinen Vorstellungen arbeitete. Im Grunde kam es ihm sehr gelegen, dass sein ehemaliger Partner schon eine Nachfolgerin angeschleppt hatte. Wenn sie nicht durch reinen Zufall hinter das System gekommen war, dann besaß sie eine seltene Gabe, die er fördern und ausschöpfen konnte. Er würde ihr auftragen, ein neues, sichereres System zu entwerfen. Doch zuvor musste sie sich beweisen. Das Mädchen hatte offensichtlich ein leichtes Stockholm-Syndrom entwickelt, während der Bückling sie in seiner Gewalt gehabt hatte, doch es war nicht ausgeprägt genug, dass sie ihren Entführer vergötterte, hinderte sie lediglich an der Flucht. Nox konnte sich das zunutze machen. Eine bereits vorhandene Abhängigkeit war leicht auf eine andere Person übertragbar. In den nächsten Monaten galt es, aus dem Busenwunder eine vertrauenswürdige Assistentin zu formen. So konnte er sich die Zeit vertreiben, bis er Irina aus ihrem Versteck lockte. Dieser Begegnung fieberte er inzwischen regelrecht entgegen. Er musste sich zügeln, um nicht nachlässig zu werden. Geduld war das Gebot der Stunde, obwohl er sich schon sehr lange geduldete und er auf absehbare Zeit seine Grenzen erreichte. Hoffentlich überspannte Irina den Bogen nicht, sonst könnte er für nichts mehr garantieren. Das Telefon klingelte. Überrascht blickte er auf die Nummer. Die Probleme kamen schnell. „Was gibt es?“ „Hallo, Herr Wolf?“, stammelte das Busenwunder am anderen Ende. „Sprechen Sie mich mit Radek an“, korrigierte Nox. „Entschuldigung, äh, also, ich wollte noch sagen, dass ich gar keinen Führerschein habe. Ich kann die Akten gar nicht zu Herrn Mehlkorn nach Hause bringen.“ Die Scham in ihrer Stimme, tropfte regelrecht aus dem Lautsprecher. „Das werden wir ändern müssen, schätze ich“, entgegnete Nox geduldig, „Wenn sie die Fälle sortiert haben, begleite ich Sie. Melden Sie sich dann wieder.“ „Okay, ist gut, mach ich.“ Nox legte auf. Da wartete wirklich viel Arbeit auf ihn. In Gedanken erstellte er eine Liste der Dinge, die es zu erledigen galt: Arbeitsvertrag, Konto, Wohnung, Führerschein. Sobald die Bestellung eintraf, würde er ihr zeigen, wie man ein Büro in eine elektronische Festung verwandelte. Dabei könnte er ihre Auffassungsgabe testen.

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Die Glocken, die seit Monaten Irinas Leben bestimmten, dröhnten laut über das Klostergelände. Schlaftrunken krabbelte sie aus dem Bett und kleidete sich an. Die Tage waren nicht mehr einförmig und regelmäßig, seit Miryam eingetroffen war und die Schwangerschaft voranschritt. Das zweite Trimester wurde seinem Ruf gerecht, die Beschwerden vom Beginn der Schwangerschaft waren vollends verschwunden, Irina fühlte sich ausgeglichen und beobachtete die Veränderungen ihres Körpers mit wachsender Neugier und leiser Freude. Ihre Brüste legten deutlich an Volumen zu, zeitgleich wurde auch der Bauch langsam dicker, doch unter der Schwesterntracht war davon noch nicht viel zu sehen. Wenn sie den Vormittag mit Gartenarbeit hinter sich gebracht hätte, würde sie ihr Training fortsetzen. Am Schießstand hatte Irina nur kurz üben können, solange das Baby noch keine funktionierenden Hörorgane besessen hatte. Das erste Mal hatte sie sich vor dem ungewohnten Rückstoß und dem Lärm des Schusses erschrocken, und ihre Leistungen waren miserabel gewesen. Sie hatte sich gerade mal bis zum unteren Durchschnitt vorkämpfen können, bevor sie zum Wohle des Kindes das Schießen aussetzte. Auf Nahkampftraining verzichtete Irina aus demselben Grund. Miryam bedauerte diese Einschränkung sehr, in ihren Augen war dies ein furchtbarer Nachteil, doch für Irina war die Vorstellung, eine körperliche Auseinandersetzung mit Nox zu führen, geradezu absurd. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, den Killer zu erschießen. Irina wusch sich in dem kleinen Waschbecken das Gesicht. Dort, wo normalerweise ein Spiegel angebracht war, hingen jetzt zwei Ultraschallbilder, die in körnigem Schwarzweiß den kleinen Fötus zeigten, der in ihrem Bauch heranwuchs. Sie lächelte, wie jeden Morgen, wenn sie die Fotos sah. Es würde ein Junge werden. Die Hebamme hatte sie zu einer vertrauenswürdigen Gynäkologin begleitet, die den Schwangerschaftsfortschritt begutachtet hatte. Alles verlief bestens. Irina hatte ihre anfänglichen Ängste und Zweifel weitestgehend besiegt und jetzt genoss sie die Schwangerschaft, wie jede andere werdende Mutter, mit den üblichen Sorgen und Nöten, die eine Schwangerschaft normalerweise begleiteten. Sie hoffte, dass das Kind gesund zur Welt kam, dass sie vielleicht noch ein paar Tage mit ihrem Sohn verbringen konnte, bevor sie ihn weggeben musste. Wenn ihre Gedanken bei dem Kind verweilten, begann sie unbewusst sanft zu lächeln, und ihre Augen nahmen einen verträumten Ausdruck an. Der kurze Spaziergang zur Kirche wurde begleitet von vielstimmigem Vogelgezwitscher. Sie hatte mittlerweile die einzelnen Stimmen auseinanderzuhalten gelernt, erkannte einen Buchfink, der seine Fanfare von einer Regenrinne schmetterte, mehrere Rotkehlchen, die in einem nahen Gehölz um die Wette trällerten und irgendwo im Hintergrund einen Zilpzalp. Im Ziergarten konkurrierten Dahlien und Gladiolen mit farbenprächtigen Blüten um die Aufmerksamkeit des Auges, die Luft war erfüllt von den verschiedenen Gerüchen des blühenden Grüns, die gemeinsam zu einer betörenden Komposition verschmolzen. Sie langweilte sich durch die Morgenandacht und den Vormittag, der kein Ende nehmen wollte, während der Nachmittag mit Miryam wie im Flug verging. Das Training bestand aus verschiedenen Übungen, die die Aufmerksamkeit schärfen sollte, Irina bekam ein Bild gezeigt und musste sich in wenigen Sekunden so viele Details wie möglich merken und aufzählen können. Nebenbei teilte Miryam viele Erfahrungswerte mit ihr. Was musste man bei einer Observierung beachten? Wie brach man in ein Haus ein? Welche Technik nutzte man, um seine Spuren im Gelände zu verwischen? Irina gewann zunehmend Selbstvertrauen. Sie mochte keine gute Schützin sein, doch in den anderen Disziplinen entdeckte sie so etwas wie ein verborgenes Talent. Sie konnte in wenigen Sekunden die Frau mit dem blauen Hut in einem Wimmelbild finden und es gelang ihr präzise, beim Betreten eines Raumes die Anwesenheit eines anderen Menschen zu fühlen. Als intuitiver und empathischer Mensch waren ihre Sinne in diesem Bereich bereits von Natur aus ungewöhnlich scharf. Jetzt lernte sie diese Fähigkeit gezielt zu nutzen und weiterzuentwickeln. Miryam zeigte sich ein ums andere Mal beeindruckt. Nach dem Abendbrot trafen die beiden Frauen sich zu einem Spaziergang. Irina hatte einen kleinen Pfad entdeckt, der einmal um das ganze Klostergelände herum führte. Eine Frage beschäftigte sie seit Tagen, doch aus Respekt und Höflichkeit hatte sie sie bis jetzt zurückgehalten: „Wie kommt es, dass dir der Name meines Killers geläufig ist?“ Miryam grinste. „Ich habe mich schon gefragt, wann du diese Frage stellst. Nun ja, ich habe lange Zeit als Söldner gearbeitet, da gibt es gewisse Überschneidungen. Die Grenze zwischen einem Söldner und einem freiberuflichen Auftragsmörder ist nahezu fließend, manche wechseln permanent zwischen den beiden Bereichen hin und her. So trifft man alle möglichen „Kollegen“, tauscht sich aus, erzählt Gerüchte, Klatsch und Tratsch aus der Szene, wer bei wem grade in Dienst steht, oder mit einem Einsatz betraut wurde. Der Name Nox hat die Gerüchteküche immer wieder in Aufruhr versetzt. Die Geschichten stammten meistens aus dritter Hand, sodass man nie sagen konnte, wie viel Wahrheit noch darin steckte, und ich habe nie jemanden getroffen, der ihm persönlich begegnet ist. Das hat mich damals schon verwundert“, sie machte eine Pause und blickte nachdenklich vor sich hin. „Was für Geschichten waren das?“, bohrte Irina weiter. „Oh, es gab viele“, antwortete Miryam ausweichend, „Aber alle Geschichten hatten eine Gemeinsamkeit: Die Klienten waren in den seltensten Fällen erschossen worden, sondern durch unmögliche Unfälle oder plötzlichen Suizid ums Leben gekommen. Nebenbei: Er war immer erfolgreich, nie gab es Beschwerden, es hieß immer, dass er seine Aufträge einwandfrei erledigt hat, präzise und professionell. Das ist eine Besonderheit in der Szene, denn eigentlich lebt man immer in dem Risiko, ein bestimmtes Detail bei der Auftragsbeschreibung vernachlässigen zu müssen, damit man insgesamt den Auftrag erfüllen kann. Die durchschnittlichen Erfolgschancen sind aufgrund von unvorhergesehenen Zufällen sehr niedrig. Danach muss man sich immer noch mit seinem Auftraggeber auseinandersetzen, der gerne das Honorar verweigert, wenn er nicht ganz zufrieden ist. Du kannst dir sicher vorstellen, wie oft ein Auftraggeber seine volle Zufriedenheit bekundet, wenn er andererseits den Preis drücken kann. Umso erstaunlicher ist es, von einem Auftragsmörder zu hören, der jeden Klienten vorbildlich eliminiert. Es ist wie ein urbaner Mythos, und dafür hielt ich die Geschichten auch die meiste Zeit.“ Irina schauderte. Sie dachte an ihre eigenen Erfahrungen mit dem Killer und stellte sich vor, dass dieser nun möglicherweise das erste Mal im Laufe seiner Karriere einen Auftrag nicht zufriedenstellend erledigt hatte, weil sie ihm entkommen war. Wie besessen musste er von der Vorstellung sein, diesen Makel zu bereinigen, um seinen unfehlbaren Ruf wieder herzustellen? Was würde er mit ihr anstellen, wenn er sie doch noch zu fassen bekam? Sie zog die Stirn in Falten. Von dieser Vorstellung versuchte sie sich grade zu trennen. Sie sollte sich viel mehr fragen, was sie mit dem Killer anstellen würde, wenn sie ihm endlich alles heimzahlen konnte. Irina blieb stehen. Das Kind in ihrem Bauch bewegte sich. „Er tritt mich“, sagte sie lächelnd, ihre Augen glänzten dabei, sie fasste nach Miryams Hand und legte sie auf die Stelle, wo der Kleine sich bemerkbar machte. Miryam kicherte, bis Irina unter einem heftigen Tritt zusammenfuhr: „Huch, was für ein Wirbelwind. Der will wohl mal Karate lernen.“ „Bist du sicher? Vielleicht wird er auch ein Fußballer.“ „Bei dem Vater sicher nicht.“ Miryam brach in schallendes Gelächter aus, bis ihre Augenwinkel feucht wurden. „Wenn man dich so reden hört, würde man kaum vermuten, dass der Vater mehr als nur ein gewöhnliches Arschloch sein könnte!“ „Wenn er so berühmt und berüchtigt ist, muss ihn doch langsam mal jemand auf den Teppich holen“, grinste Irina. Miryam verdrehte lachend die Augen. „In Wirklichkeit wird der kleine Wirbelwind bestimmt Beamter, Lehrer, oder Finanzberater“, führte Irina den voran gegangenen Gedanken noch ein wenig weiter aus, „Ich kannte mal eine junge Familie in der Nachbarschaft. Die Eltern haben Heavy Metal- und Rockmusik gehört, aber ihr Kind wurde später ein Schlagerfan.“ Miryam verzog das Gesicht, als habe sie auf eine Zitrone gebissen: „Na, irgendwie muss man ja gegen die Eltern rebellieren.“ „Magst du auch keine Schlager?“ „Ich bitte dich, einige Künstler und ihre Werke sollten von der Genfer Konvention verboten werden. Es würde mich nicht wundern, wenn der Name des Genres aus einem Verwendungszweck im Bereich der Folter stammt.“ Irina prustete vor Lachen, als sich das vorzustellen versuchte: „Bei der Obduktion der Leiche wurde eindeutig festgestellt, dass das Opfer tot geschlagert wurde“, witzelte sie. Miryam kicherte zustimmend: „Lieber gehe ich auf eines dieser todlangweiligen IT-Symposien, bei denen sie nur mit Fachbegriffen um sich werfen.“ Bei dem Stichwort „IT“ klingelte etwas bei Irina, sie spürte dem Gefühl nach und plötzlich fiel ihr siedend heiß ein, dass sie etwas sehr Wichtiges vergessen hatte. „Sag mal, hast du Ahnung von Technik?“ „Ein wenig, wieso? Ist nicht wirklich mein Fall, aber der ein oder andere Trick ist mir geläufig.“ „Damals, während meiner Flucht, habe ich Nox‘ Laptop geklaut, aber ich trau mich nicht ihn einzuschalten. Hab ganz vergessen, dass er noch existiert. Die Aufregung mit der Schwangerschaft und so, da ist es mir einfach entfallen.“ Miryam blieb perplex stehen. „Du hütest seit Monaten den Laptop deines Auftragsmörders und vergisst das einfach? Mensch, dir ist wirklich nicht mehr zu helfen. Wer weiß, ob die Informationen überhaupt noch zu gebrauchen sind.“ Irina wurde verlegen. „Naja, aus den Augen, aus dem Sinn.“ Ihre lahme Ausrede wurde mit einem Kopfschütteln quittiert. „Unglaublich!“ „Dankeschön.“ „Das war kein Kompliment.“ „Wirklich nicht?“ „Hoffentlich kann man da noch verwertbare Daten abrufen.“ „Ich hoffe ja eigentlich, dass ich den Namen des Auftraggebers herausfinden kann. Mit dem würde ich mich gerne mal unterhalten.“ „Nur unterhalten?“, grinste Miryam, „Also ich würde ja ganz andere Dinge mit ihm anstellen wollen. Aber du vergisst das Gerät ja lieber“, Miryam schnalzte mit der Zunge. „Ich hatte Angst, dass mir der Laptop um die Ohren fliegt, oder sonst etwas Blödes passiert, wenn ich ihn einschalte. Da hab ich die Sache erst mal verdrängt, damit ich nicht doch noch meiner Neugier erliege“, gestand Irina mit ernster Stimme. Schlagartig wurde auch Miryam wieder ernst: „Das ist gar nicht so abwegig, ich bin sicher, du hast richtig gehandelt. Wir sollten einige Vorsichtsmaßnahmen treffen, bevor wir uns das heiße Stück Technik vornehmen.“ Dann machte sie ein Geräusch, das ihre Fassungslosigkeit wiederspiegelte: „Trotzdem hast du viel Zeit vergeudet. Er hat sicher bereits alle Spuren beseitigt.“ „Nein“, überlegte Irina gedehnt, „Ich bin davon überzeugt, dass er immer noch nicht aufgegeben hat. Was auch immer wir auf dem Laptop finden werden, es wird bestimmt eine Falle sein.“ „Nach so langer Zeit?“, Miryam runzelte die Stirn, „Glaubst du, dass er derart besessen von dir ist?“ „Von Glauben kann keine Rede sein. Er hat es bereits bewiesen“, antwortete Irina düster, „Außerdem hast du selbst grade gesagt, dass er niemals versagt hat. Wenn ich die Erste bin, die ihm durch die Lappen gegangen ist-“, sie beendete den Satz nicht, es war auch nicht nötig. „Wir müssen uns gegen alle Eventualitäten absichern. Gib mir den Laptop, dann lasse ich das Gerät röntgen, um versteckte Sprengsätze auszuschließen. Danach kümmere ich mich um einen Experten. Es gibt da noch ein paar Leute, die mir einen Gefallen schulden, aber es kann dauern, denn sie sind erstens immer ausgebucht und hassen es zweitens zu reisen.“ Es dauerte ein paar Tage länger als erwartet, bis Miryam den Laptop für unbedenklich erklärte. Irina hatte in der Zwischenzeit einen Ort auf dem Klostergelände gefunden, der für die „Operation Laptop“ geeignet war. Die Nonnen erlaubten ihr, eine ungenutzte Nische in den Gewölben unter der Kirche für diesen Zweck mit Licht und Strom auszustatten. Die dicken Sandsteinmauern schirmten alle Funknetze ab, mit denen sich das Gerät verbinden könnte. Dort unten herrschte absolute Funkstille, was Irina irgendwie passend fand, für eine Katakombe, die im hinteren Teil die sterblichen Überreste vergangener Klosterbewohnerinnen beherbergte. Während Miryam ihre Kontakte anschrieb, wurde Irina langsam wieder richtig nervös, die Neugier wuchs ins Unerträgliche, jetzt, da es eine greifbare Möglichkeit gab, den Laptop zu nutzen. Der Wunsch nach Aufklärung brannte heiß auf ihrer Seele und warf zischende Blasen, während sie sich immer wieder ermahnte, dass sie zuerst an Nox vorbei müsste, um an den Auftraggeber zu gelangen. Wenn sie es auf sich beruhen lassen könnte, hätte sie die Chance auf ein normales Leben. Es könnte doch alles wie früher werden, sie könnte sich eine neue Wohnung suchen, irgendwo, weit weg, wo der Killer sie nicht finden würde, vielleicht müsste sie noch eine Weile warten, bis er aufgab, doch danach stand ihr die Welt wieder offen. In diesem Fall müsste sie natürlich damit leben, niemals erfahren zu haben, warum ein fremder Mensch sie ermorden lassen wollte. Was wäre, wenn er einfach einen neuen Auftragsmörder anheuerte, weil Nox versagt hatte? Für ihre Zukunft und ihren Seelenfrieden brauchte Irina Gewissheit. Aber Nox und der anonyme Mistkerl im Hintergrund waren Teil desselben Problems. Mit jedem Tag, an dem Irina trainierte, wuchs in ihr das Verlangen nach einer Revanche. Auch wenn es bedeutete, dass sie sich in Lebensgefahr begab und mit großer Wahrscheinlichkeit sterben würde, wenn sie erneut auf den Killer traf, konnte sie sich nicht einfach aus dem Staub machen und vorgeben, alles sei in Ordnung. Solange diese Sache nicht geklärt war, konnte sie sich unmöglich der Illusion von einem Neubeginn hingeben. Wenn sie nun ihren wachsenden Bauch betrachtete, mischte sich Wehmut in ihre Gedanken. Sie bedauerte die Umstände, die zu dieser Schwangerschaft geführt hatten. Mit Karsten hätte sie gerne eines fernen Tages eine Familie gegründet, damals waren sie einfach noch nicht bereit gewesen, hatten sich noch mit beruflichen und finanziellen Zielen beschäftigt, die sie vor der Familienplanung verwirklichen wollten, um in alle Richtungen abgesichert und vorbereitet zu sein. Aber das Leben hatte ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht, jetzt war sie schwanger von einem Fremden, der ihr nichts als Leid zugefügt und ihr eine unauslöschbare Angst eingepflanzt hatte, sodass sie sich nicht in der Lage fühlte, dieses Kind so zu lieben, wie es das verdient hatte. Die Adoption war die einzige Möglichkeit, um dem kleinen Jungen eine glückliche Zukunft zu schenken, aber sie bedauerte es, ihn weggeben zu müssen. Solange er noch klein war, hätte sie ihn wirklich lieb haben können, ohne sich ernsthafte Sorgen über mögliche väterliche Veranlagungen zu machen, doch wenn er erst größer würde und sie ihre Ängste nicht beherrschen konnte, wäre eine Trennung umso schmerzhafter, und die Chancen für eine erfolgreiche Vermittlung sanken proportional mit seinem Alter. Babys hingegen wurden gerne und schnell adoptiert. Wieder kämpfte Irina mit ihrem Gewissen. Der kleine Junge in ihrem Bauch war ihr schon ans Herz gewachsen. Mit jedem Tritt, den er ihr verpasste, gleichsam zum Beweis, dass er sich durch das Leben kämpfen würde, fühlte sie wachsende Zuneigung in sich aufsteigen.

Der Sommer hielt Einzug und das anfänglich schöne Wetter entwickelte sich zu einer Hitzewelle, die schließlich in eine anhaltende Dürre überging. Die Sonne dörrte den Boden aus, der hart und rissig wurde, die Blumen im Ziergarten verwelkten, die Beete, die den Lebensunterhalt des Klosters darstellten, mussten nun morgens und abends gewässert werden. Einzig der Lavendel schien nicht unter der flirrenden Hitze zu leiden, er verbreitete seinen schweren, aromatischen Duft über das ganze Klostergelände und versprach eine reiche Ernte. Die Vögel verstummten fast gänzlich, bis auf sporadisches, träges Gezeter zwischen rivalisierenden Amselmännchen. Die flirrende, wabernde Luft war jetzt erfüllt von dem Zirpen unzähliger Heimchen, dem Schnarren zahlloser Heupferdchen und anderer Insekten, die Irina in der Geräuschkulisse nicht benennen konnte, die aber eindeutig ihre körperlosen Laute zu dem Potpourri beisteuerten.

Irinas Bauch wuchs immer weiter, wurde kugelig und schwer. Das zweite Trimester neigte sich dem Ende entgegen, der kleine Wirbelwind drückte nun häufig auf ihre Blase und schickte sie immer wieder umsonst zur Toilette. Zusätzlich litt sie unter geschwollenen Armen und Beinen, im Grunde eine typische Schwangerschaftsbeschwerde, doch die Hitze verstärkte den Effekt noch. Oft musste sie sich hinlegen und ausruhen. An Arbeit war nicht mehr zu denken. Meistens suchte sie die Bibliothek auf, um sich dort auf das Sofa zu legen und mit einer Lektüre abzulenken, während das Kind in ihrem Bauch seine Geschicklichkeit trainierte. Das kühle Gewölbe hätte sie vorgezogen, doch der Hacker, den Miryam aufgetrieben hatte, legte eine so ausgeprägte Verschrobenheit an den Tag, dass er nur unter sehr sonderbaren Bedingungen bereit gewesen war, sich des Falls anzunehmen. Außer ihm durfte niemand das Gewölbe betreten, er arbeitete allein, nicht mal Miryam durfte sich in seiner Nähe aufhalten, wenn er sich mit dem Laptop beschäftigte. Obendrein hatte er eine stattliche Summe Geld verlangt, die Irina im Voraus hatte zahlen müssen. Von dem Geld des Killers war nicht mehr viel übrig. Sie hoffte, dass der IT-Spezialist bald einen Fortschritt vermelden konnte, denn sie wurde allmählich wirklich ungeduldig. Jedes Mal, wenn er sich ankündigte, wuchs der Druck ins Unermessliche. Die Bibliothek war der einzige Ort, an dem sie die Zeit irgendwie vertrödeln konnte, indem sie ihre wirren Gedanken auf ein Buch fokussierte. Oft gelang es nicht, denn das Warten machte sie schier verrückt. Irina hatte sich endlich an Dostojewskies „Schuld und Sühne“ gewagt und quälte sich durch die ellenlangen Gedankengänge des Protagonisten, dessen Gewissen mit dem Mord an einer alten Pfandleiherin belastet war. Überrascht musste sie feststellen, dass sie die Sorgen und Nöte des jungen Mannes nicht nachvollziehen konnte. Sie hatte zu viel erlebt, zu viel erduldet und sich allmählich so weit von ihrer ursprünglichen Sicht der Dinge entfernt, dass sie die Gewissensbisse des Protagonisten nicht mehr teilen konnte. Sein Handeln erschien ihr vielfach unlogisch, wenngleich ihr klar war, dass es der Verzweiflung entsprang. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab und wandten sich Nox zu. Sie malte sich aus, wie sie ihm gegenübertreten würde, die Jericho hob, zielte und das Böse aus ihrem Leben tilgte. Würde er überrascht sein, oder einen Anflug von Angst zeigen? Betteln würde er sicher nicht, das lag unter seiner Würde. Aber einen großspurigen Kommentar würde er sich bestimmt nicht verkneifen können. Jedes Mal überkam sie ein Schaudern, wenn sie an dieser Stelle der Überlegung ankam. Sie durfte sich nicht von ihm verunsichern lassen, wenn es so weit war, doch sie fühlte immer noch eine entsetzliche Furcht, die sich nicht kontrollieren ließ. Was auch immer geschah, ob sie nun siegreich aus der nächsten Begegnung hervor ging oder versagte und starb, das einzig Wichtige war, dass sie sich nicht verplapperte und die Existenz des Kindes verriet. Irina hegte ein so ausgeprägtes Misstrauen gegen Nox, das es fast an Aberglauben grenzte: Sie war irrationalerweise überzeugt davon, er könne überleben, wenn er von dem Kind erfuhr. Ihr war klar, dass keinerlei Kausalität zwischen diesen beiden Aspekten bestand, doch eine leise Stimme in ihrem Innern flüsterte beständig auf sie ein und nagte an ihr. Sie seufzte. Es waren nur noch wenige Monate bis zum vorausberechneten Geburtstermin, und sie hatte immer noch keinen Namen gefunden, der ich gefiel. Obwohl sie sich für eine Adoption entschieden hatte, lag es Irina sehr am Herzen, ihrem Sohn einen Namen zu geben, bevor sie ihn in fremde Obhut gab. Das einzige Geschenk einer Mutter, die nicht Mutter sein konnte, sich aber dennoch das Beste für ihr Kind wünschte. Die Schwierigkeit bestand darin, dies in einem Namen auszudrücken, der nicht wie Sand am Meer verwendet wurde, oder so selten vorkam, dass er albern, altmodisch und umständlich klang. Ein Schatten legte sich über das aufgeschlagene Buch in Irinas Händen, sie erschrak, noch bevor Miryam hinter ihr: „Buh!“ rief. Irina machte dem Schreck in einem schrillen Ausruf Luft. „Eine schwangere Frau so zu erschrecken, ich bin empört! Ich hätte vorzeitige Wehen bekommen können, wenn ich mich so aufrege“, meinte sie. „Du warst unaufmerksam“, grinste Miryam und schien die erfolgreiche Überrumpelung voll auszukosten, „Ich habe dir schon eine ganze Weile zusehen, wie du verträumt über den Rand deines Buches hinweg gestarrt hast. So wird dein Auftragsmörder aber leichtes Spiel mit dir haben“, tadelte sie kopfschüttelnd. „Oje“, seufzte Irina, „Ich könnte natürlich behaupten, ich hätte gewusst, dass du es bist. Würdest du das glauben?“ „Natürlich nicht. Aber das ist jetzt auch nicht so wichtig, mein Bekannter hatte Erfolg“, sie grinste triumphierend, „Wir haben eine E-Mail-Adresse.“ „Endlich! Hilf mir auf! Der kleine Racker wird allmählich schwer. Erzähl schon, was ist damit? Kann er sie zurückverfolgen? Was für eine Adresse ist es?“ „Immer mit der Ruhe, du darfst dich doch nicht so aufregen, sonst könntest du vorzeitige Wehen bekommen“, konterte Miryam. Irina überhörte die Spitze und bohrte weiter: „Haben wir eine Spur?“ „Sie ist hauchdünn. Die Mails wurden an einen T. Mehlkorn von einer Rechtsanwaltskanzlei R. verschickt, aber das scheint ein Deckname zu sein. Morgen werden wir uns die Sache genauer ansehen.“ „Wie kannst du das auf morgen vertagen, wenn wir endlich eine Spur haben?“ „Nicht meine Schuld. Mein Bekannter hat noch einen anderen Job, der ihn in Beschlag nimmt, er opfert schon seine Freizeit für mich.“ Irina versuchte sich die Aufregung und Enttäuschung nicht zu sehr anmerken zu lassen, aber Miryam war zu gut, um sich täuschen zu lassen. „Stress dich nicht, du kannst ohnehin erst etwas unternehmen, wenn du deinen Körper wieder für dich allein hast. Vorher wäre alles sinnlos.“ „Ja, schon“, gab Irina zu, „Aber ich warte nun so lange, dass ich es endlich hinter mich bringen will.“ „Das ist verständlich, aber nicht weise. In den nächsten Sitzungen wird er jedenfalls prüfen, ob die Adresse noch aktiv ist und parallel die T. Mehlkorns beim Einwohnermeldeamt abgleichen. Auf diese Weise sollten wir weitere Informationen erhalten.“ „Der Name sagt mir gar nichts“, warf Irina ein, „Ich erinnere mich nicht an einen T. Mehlkorn.“ „Das hat nichts zu bedeuten. Es kann eine Tarnung sein, oder ein Kontaktmann, der zwischen dem Killer und dem Auftraggeber vermittelt hat.“ Irina seufzte. „Dann muss ich mich wohl weiterhin gedulden. Ich warte ja erst seit…“, sie überlegte kurz, dann lächelte sie, „Seit fast einem Jahr, seit Nox das erste Mal in meiner Wohnung auftauchte.“ Der Witz konnte jedoch nicht die drängelnde Ungeduld überspielen, die in ihrer Stimme mitschwang.

~

Linda strahlte den Killer mit ihrer unvoreingenommenen Art an. Sie hatte soeben die elektronische Barriere der Kameras umgangen, die Nox errichtet hatte, um ihr zu zeigen, wie man sich in ein Überwachungssystem hackte. Der Bildschirm zeigte das leere Büro der Kanzlei gestochen scharf und in Farbe. Die Regale waren ausgeräumt, die Schreibtische abtransportiert worden, ein Rechner stand noch angeschlossen in einer Ecke. Auf dem Konferenztisch lag eine einsame Akte, die dort genauso künstlich platziert wirkte, wie sie es auch war. Nox hatte sie für diesen Zweck eigens zusammengestellt. Die Identität des Auftraggebers war nicht enthalten, dafür aber eine Auswahl seiner liebsten Fotos, die Irinas Folter dokumentierten. Je nachdem, wie sie sich anstellte, würde er entscheiden, ob er ihr die gewünschten Informationen gab, oder nicht. Einzig dieser Umstand hatte den Auftraggeber bisher vor einem Besuch des Killers bewahrt. Sollte Irina sich der Sache nicht annehmen, dann würde er es nachholen. Bis dahin behielt er seinen wichtigsten Trumpf auf der Hand. Nox war begierig zu sehen, wie weit seine Klientin sich verändert hatte. Wie weit mochte er sie bei einer Begegnung wohl provozieren können? Fürchtete sie sich noch vor ihm, oder hatte sie die Vergangenheit verdrängt, mit der Absicht, Rache zu nehmen für die erlittenen Qualen? Diese und ähnliche Fragen erfüllten ihn mit brennender Unruhe, beißender Neugier und einem weiteren, unterschwelligen Gefühl, das er nicht richtig zu fassen bekam, nicht einordnen konnte. Er nickte seiner Assistentin in Ausbildung zu: „Schalte die Lichtschranke der Tür aus, ohne den Alarm auszulösen“, forderte er sie zu einer neuen Übung auf. Linda lernte schnell und vergaß kaum etwas, was Nox ihr einmal gesagt hatte. Einzig die nervöse Unsicherheit, die der Bückling ihr eingebläut hatte, sorgte hin und wieder für einen Fehler, doch das geschah immer seltener. Sie fasste langsam Vertrauen in ihre neue Position als Assistentin. Nox hatte zuverlässig seine Liste abgearbeitet, Linda verfügte nun über eine eigene Wohnung, einen Arbeitsvertrag und ein Konto, auf das der Killer ihr Gehalt zahlte, und in wenigen Wochen würde sie die Fahrprüfung ablegen. Die plötzliche Zuwendung hatte das junge Mädchen völlig überwältigt, und die Tatsache, dass Nox sich nur für ihre Fähigkeiten, nicht aber für ihren Körper interessierte, erledigte den Rest. Ein weiterer Fehler, der seinem ehemaliger Partner unterlaufen war und Nox in die Hände spielte, denn der Bückling hatte keinen Wert darauf gelegt, seiner Gespielin den körperlichen Liebesakt als angenehme Erfahrung zu vermitteln. Das Mädchen zerfloss geradezu vor Dankbarkeit und war bestrebt, sich das Lob des Killers zu verdienen, womit er wohlweislich geizte. Mehr als ein zustimmendes Nicken gab es selten. Nur ein einziges Mal hatte er ihr ein schlichtes „Gut gemacht!“ geschenkt, als sie die Wohnung ihres ehemaligen Gönners auf seine Anweisung hin in Brand gesteckt hatte und so alle falschen Akten und die Leiche in den Flammen vernichtet worden waren. Tatsächlich hatte sie diese Aufgabe sogar exzellent erledigt, denn die Feuerwehr hatte nichts mehr retten können. Die Polizei ging von einem Unfall aus. Linda war wirklich talentiert. Sie strengte sich an und machte schnell Fortschritte. Es war ihre Idee gewesen, den Kellerraum des Bürogebäudes für die Überwachung zu nutzen, mit dem Hintergedanken, dass es doch auffällig sei, wenn jemand stundenlang in einem Auto in der Tiefgarage saß. Die Idee war nicht dumm und Nox ließ sie gewähren, um ihr Selbstvertrauen zu stärken. Er erinnerte das Mädchen nicht daran, dass der Vito im hinteren Bereich keine Fenster besaß. Sollte sie ihre Freude voll auskosten, dass ihr Vorschlag angenommen worden war, dafür hatte sie den Raum alleine herrichten müssen, hatte alleine die ausgedienten Aktenschränke aus den Anfängen der Kanzlei demontieren und auf den Müll werfen müssen. Jetzt gab es nur noch einen Tisch, an dem sie sich Laptop an Laptop gegenübersaßen und eine alte Matratze, die abwechselnd zum Schlaf genutzt wurde. Eine trübe, vergitterte Deckenlampe spendete ein Minimum an Licht. Die schlechten Erinnerungen an diesen Raum schien das Mädchen schnell verdrängt zu haben. Sie wirkte völlig ausgeglichen. Ihre Finger flogen über die Tastatur, während sie sich mit der Aufgabe abmühte. Das Geräusch wurde aggressiver. Der Algorithmus, den Nox ihr vorgesetzt hatte, war bedingt lernfähig und reagierte auf ihren Angriff. Plötzlich leuchtete eine rote Lampe über der Tür des Kellerraumes auf. „Mist“, fluchte sie. Der Alarm war ausgelöst worden. „Noch mal“, kommentierte Nox und stellte alles auf Anfang zurück. Drei weitere Versuche scheiterten, doch beim vierten gelang es Linda, den Algorithmus des Systems auszutricksen und durch eine Hintertür einzusteigen, ohne den Alarm auszulösen. Nox war zufrieden und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück: „Was sagen Sie zu einer Kaffeepause?“ „Sehr gerne, ich hätte auch ein wenig Hunger.“ „Kaufen Sie sich etwas. Aber bleiben Sie nicht zu lange weg. Ich bereite die nächste Übung vor.“ „Jawohl! Darf ich Ihnen etwas mitbringen?“ „Nur den Kaffee, danke.“ Linda sprang auf, schnappte sich ihre Tasche und rauschte glücklich aus dem Raum. Nox veränderte einige Parameter des Sicherheitssystems, die Kameras waren nun mit der Lichtschranke verbunden, beide würden jetzt einen Alarm auslösen, wenn jemand auf eines der Systeme zuzugreifen versuchte. Er wollte sich gerade erheben, um sich die Beine ein paar Schritte im Flur zu vertreten, als ein kleines Pop-Up-Fenster auf dem Bildschirm erschien: Eine Karte, auf der eine GPS- Ortung angezeigt wurde. Nox hielt inne, beobachtete beinahe ungläubig, wie die Karte immer näher heranzoomte, vom Bundesland zur Kommune wechselte, dann fror das Bild ein: „signal lost“. Der Ausschnitt war noch zu groß, um mit Sicherheit sagen zu können, von wo genau das Gerät sich eingewählt hatte, aber das war auch nicht notwendig. Irina streckte endlich ihre Fühler aus, bald würde sie der Spur aus Brotkrumen folgen und direkt hierher geführt werden. Nox Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen, dann stieg ein Lachen in ihm auf. Es war ungemein befreiend. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie stark der Druck auf seinen Schultern gelastet hatte, keinen Beweis für die Richtigkeit seiner Mutmaßungen besessen zu haben. Hier war der Anhaltspunkt, der ihm bislang gefehlt hatte, eine Bestätigung, dass Irina nicht in der Lage war, sich von der Vergangenheit zu lösen und ihm tatsächlich bewusst entgegentreten würde, weil die Ungewissheit für sie schlimmer war als die Aussicht auf den Tod. Sein Blick studierte den Kartenausschnitt. Der Großteil zeigte ein ländliches Gebiet mit kleinen Gemeinden. Eine Gegend, die perfekt war, um sich zu verstecken. Mit freudiger Erwartung bezog Nox wieder seinen Posten am Laptop, er erwartete, dass in wenigen Minuten eine Mail im Postfach des Bücklings landete. Wie aufs Stichwort erklang der charakteristische Jingle, das einen Nachrichteneingang verkündete. Ein kurzer Scan verriet dem Killer, dass es sich um eine verschlüsselte Standortabfrage handelte, getarnt als Newsletter eines Steuerberaterverbandes. Nox grinste anerkennend. Sein ehemaliger Partner wäre vermutlich darauf hereingefallen. Der Killer fand immer mehr Gefallen an dem Spiel. Für diesen Fall hatte er einen PC im Büro stehen gelassen, den er nun per Fernzugriff hochfuhr und die Mail dort öffnete. Die Standortabfrage dauerte etwas länger als erwartet, selbst für das obligatorisch langsame Netz ländlicher Gebiete. Doch schließlich war die Adresse der Kanzlei übermittelt und Nox brach die Verbindung ab. Wie lange würde es noch dauern, bis Irina sich hier her traute? So viel Zeit war vergangen, Monate des Wartens und des Ausharrens, er sehnte sich danach, sie wiederzusehen. In all den Jahren hatte es niemals eine Klientin gegeben, die seine Gedanken so lange beschäftigte, sein ganzes Können herausforderte und sich doch nicht brechen ließ. Einerseits schien sie leicht zu durchschauen, sodass er sie lenken und manipulieren konnte, aber dann legte sie plötzlich diese ungeahnte Willensstärke an den Tag, sodass er sich wundern musste, woher sie diese nahm. Das Leben hatte ihr wirklich übel mitgespielt, die Wenigsten hätten so lange durchgehalten, und die, die es so weit gebracht hatten, waren am Ende des Weges gebrochene, seelisch verstümmelte Schatten ihrer Selbst. Irina wuchs einfach über sich hinaus und offenbarte dabei nur wieder neue Aspekte ihrer Menschlichkeit. Es schien beinahe unmöglich, diese Frau zugrundezurichten. Hinter dieser beinahe harmlosen Standortabfrage verbarg sich die konkrete Absicht von Irina, ihm entgegenzutreten. Nicht, weil er sie erpresste, sondern aus freien Stücken. Es war eine bewusste, überlegte Entscheidung. Sie hätte in ihrem Versteck bleiben, den Laptop vernichten können und Nox hätte ihren Namen als unerledigten Fall, als Versagen, wie einen Makel mit sich herumtragen müssen. Eine Strafe, deren Ausmaß ihr offensichtlich nicht bewusst war. Sie musste umgekehrt genauso empfinden, anders war es nicht zu erklären. Der Gedanke an das nun greifbare Wiedersehen löste eine Kaskade unterschiedlicher Empfindungen in ihm aus, begleitet von einem angenehmen Kribbeln. Vorfreude und Neugier vermischten sich zu etwas Neuem, etwas Leidenschaftlichen. Als Linda schließlich mit dem Kaffee zurückkehrte, schenkte er ihr unverdient ein beinahe ehrliches Lächeln.

~

Die Lavendelernte kam und ging. Seit Irina die Adresse der Kanzlei erfahren hatte, war sie ein einziges Nervenbündel. Miryam, die eigentlich als Leibwächterin ins Kloster gekommen war, musste in den Wochen, die auf den erfolgreichen Hackerangriff folgten, immer häufiger Psychologin, Beraterin und Vertraute sein. Irina entwickelte Stimmungsschwankungen, die aus Ungeduld, ängstlicher Erwartung, Angst vor der bevorstehenden Geburt und der Aussicht auf den Besuch der Kanzlei resultierten. Mal tat ihr die Freundin leid, die sich rührend um sie kümmerte, dann wieder war sie Quelle des Zornes, weil sie Irina nicht erlaubte, hochschwanger die Kanzlei zu stürmen. Manchmal wollte sie alle Vorsicht vergessen, um es endlich hinter sich zu bringen, dann wieder gab es nichts Wichtigeres als die Sicherheit des Kindes. Das Warten trieb sie in den Wahnsinn, doch die Zeit dehnte sich, wie zähes Kaugummi, und mit ihr schleppte sich das letzte Trimester dahin. Ständig rannte sie zur Toilette, litt unter den Rückenschmerzen des Hohlkreuzes, mit dem sie das Gewicht des Bauches auszugleichen suchte, die ewig geschwollenen Füße schmerzten und die eingeschränkte Bewegungsfreiheit machte ihr schwer zu schaffen. Sie sehnte die Geburt herbei, wenn sie endlich wieder ihren Körper für sich hätte. Nicht nur, um endlich die Angelegenheit mit Nox zu klären, sie war auch besorgt und gleichzeitig aufgeregt, wie viel Ähnlichkeit der kleine Junge nun tatsächlich mit seinem Vater haben würde. Vielleicht war alles gar nicht so schlimm? Wenn sie dem Killer die Stirn geboten und gesiegt hätte, was sprach dagegen, ihren Sohn zu behalten? Aber dann krochen wieder Zweifel in ihr hoch. Was wäre, wenn er ähnliche Verhaltensweisen zeigte? Sie würde wohl immer nach Ähnlichkeiten suchen, auch wenn es keine gab. Nein, es war nicht richtig, ihn zu behalten, sie würde das Kind sicher mit ihrem Misstrauen verderben. Andere Eltern konnten unvoreingenommen in seine Augen blicken, ohne dort nach dem stechenden Blick des Auftragsmörders zu suchen. Der berechnete Geburtstermin rückte näher, und zu Irinas Leidwesen stellten sich immer wieder Scheinwehen ein, die ihre Nervosität und Unruhe noch zusätzlich schürten. Eine neue Idee hatte sich in ihr festgesetzt. Seit Tagen versuchte sie Miryam zu überreden, an ihrer Stelle die Kanzlei auszukundschaften. „Schau, er will mir sicher eine Falle stellen, also warum sollten wir nicht folgendermaßen vorgehen: Du kundschaftest die Lage aus und siehst dir die Räumlichkeiten an. Wenn du auf Nox triffst, dann kannst du ihn für mich nach dem Auftraggeber fragen. Er wird dir nichts antun, denn du wärest als Unterhändler unterwegs und er will ja mich. So kann ich ihn zwingen, den Namen des Auftraggebers zu verraten.“ „Was macht dich so sicher, dass er tatsächlich darauf eingeht?“ „Weil es die einzige Möglichkeit für ihn wäre, mir noch einmal zu begegnen. Wenn ich persönlich in der Kanzlei auftauche, dann hat er mich ja schon. Warum sollte er mir dann noch irgendetwas verraten?“ Dieses Gespräch hatten sie schon oft durchgekaut, aber heute hatte Irina das Gefühl, ihre Freundin endlich überzeugt zu haben. Sie verzog das Gesicht, als eine neue Schmerzwelle durch ihren Körper raste. Seit dem Frühstück hatte sie beinahe halbstündlich damit zu kämpfen. Die Schmerzen hatten geringfügig zugenommen, aber noch konnte sie sie gut ertragen. Miryam blickte sie stirnrunzelnd an. „Ist sicher wieder nur eine Scheinwehe“, meinte Irina leichthin und bemühte sich dabei, gelassen zu wirken. Miryam schwieg einen Augenblick. „Also gut“, sagte sie schließlich, „Deine Argumentation scheint mir langsam tatsächlich schlüssig zu sein, im Gegensatz zu den verrückten Ideen der letzten Wochen. Ich werde ganz unauffällig, während der Öffnungszeiten die Kanzlei besuchen und die Lage auskundschaften. Mit deinem Killer werde ich schon fertig, ich bin ja auch nicht fachfremd“, grinste sie. Irinas Herz machte vor Freude einen Sprung, doch sie konnte es nicht richtig zeigen, denn die Wehe dauerte an. „Ich danke dir, Miryam, das bedeutet mir sehr viel. Fährst du gleich los?“ „Na, ich würde lieber erst morgen hinfahren, jetzt verpasse ich sicher die Geburt. Wenn ich dich so ansehe, dann habe ich nicht den Eindruck, dass das wieder nur Scheinwehen sind.“ „Es sind noch fast zehn Tage bis zum Geburtstermin, so eilig kann man es doch nicht haben, auf diese blöde Welt zu kommen“, scherzte Irina. „Das weiß der kleine Racker ja noch nicht“, entgegnete Miryam und warf Irina einen prüfenden Blick zu, „Bist du sicher, dass ich jetzt fahren soll? Ich kann das auch morgen erledigen.“ „Soll ich selbst hinfahren? Ich mach das, du weißt, dass ich das machen würde.“ „Bloß nicht, leg dich lieber hin, ich geh ja schon, damit du dir in der Zwischenzeit keine neuen Flausen in den Kopf setzt.“ Irina grinste. „Ich doch nicht, du kennst mich doch.“ „Ich hab befürchtet, dass du das sagen würdest.“ Miryam begleitete Irina auf ihr Zimmer, das mittlerweile vollgestellt war, mit Wickeltisch und Stubenwagen, nebst all den Utensilien, die die Pflege eines Säuglings so erforderte, dann betrat sie ihre eigene Kammer, um sich vorzubereiten. Mit einer Sache hatte Irina vollkommen Recht. Wenn sie dem Killer in der Kanzlei begegnete, gab es keinen Grund für ihn, Name und Adresse des Auftraggebers herauszurücken. Sicher hatte er alle Eventualitäten bedacht, sodass er die Identität notfalls mit ins Grab nehmen konnte, ohne für Irina einen Hinweis zu hinterlassen. Wenn er tatsächlich so besessen von ihr war, dann würde er sich sicher auf einen Deal einlassen. Das konnte Irinas Chancen auf einen Sieg unter den gegebenen Umständen nur verbessern. Miryam warf einen Blick auf die Uhr. Es war noch früh am Morgen, wenn sie sich beeilte, konnte sie am Nachmittag in der Kanzlei sein und sich als potentieller Kunde in einem Rechtsstreit ausgeben. Auf eine Schusswaffe musste sie dann zwar verzichten, doch ein Messer konnte sie zur Sicherheit in einem Holster am Knöchel mitnehmen. Sie entschied sich für eine gemusterte, luftige Sommerhose, die weit genug war, um die verräterischen Umrisse des Messers zu verbergen, und eine helle Bluse, die ihre Bewegungsfreiheit nicht einengte. Die Hitze machte ihr nicht so sehr zu schaffen wie den Einheimischen, sie genoss die brennende Sonne auf der Haut, ohne einen Sonnenbrand fürchten zu müssen. In der Heimat war das Klima ähnlich heiß und trocken. Das Auto glühte regelrecht von innen, das Lenkrad war so heiß, dass sie es kaum anfassen konnte. Eine Klimaanlage besaß der alte Golf nicht, doch der Fahrtwind brachte genug Abkühlung, sodass es schnell angenehm wurde. Unterwegs hielt Miryam bei einem Internet-Café und erstellte eine Mappe mit Steuerunterlagen, die ihr als Tarnung dienen sollte. Der zweite Teil der Fahrt dauerte eine halbe Ewigkeit. Ein Stau auf der Autobahn kostete sie so viel Zeit, dass es langsam knapp wurde, um noch während der Öffnungszeiten die Kanzlei zu erreichen, doch sie schaffte es. Eine Weile stand sie zweifelnd vor dem Haupteingang des Bürokomplexes und studierte die vielen Firmennamen und Logos, die auf einer riesigen Tafel neben dem gepflasterten Fußweg angaben, wer in dem Gebäude ansässig war. Das Logo der Rechtsanwaltskanzlei lag versteckt zwischen einer bekannten Softwarefirma und einem Call- Center, andere Angaben fehlten, sodass Miryam alleine mit dem Namen keine Möglichkeit gehabt hätte, um dieses Logo damit in Verbindung zu bringen. In Gedanken dankte sie dem Hacker, der ihr die Mails zugeschickt hatte, in der Signatur war das Logo enthalten gewesen. Als sie durch die Drehtür in das klimatisierte Innere des Gebäudes trat, stieg die vertraute Anspannung und nervöse Vorsicht in ihr auf, die sie immer auf ihren Einsätzen begleitete, und sie musste sich beherrschen, ihre Bewegungen nicht anzupassen, sondern weiter unverfänglich durch das Foyer zu schlendern, die Mappe mit den falschen Unterlagen auf dem Arm, wie ein ganz normaler Besucher oder Kunde. Im Aufzug studierte sie erneut die Tafel mit den Firmenlogos auf den unterschiedlichen Etagen. Wieder dauerte es einen Moment, bis sie das Logo der Kanzlei in der Reihe der Firmen für die achte Etage entdeckte. Die Türen schlossen sich geräuschlos und die Kabine setzte sich sanft in Bewegung.

~

Die Wehen, die Irina schon den ganzen Vormittag mit Schmerz peinigten, wurden immer stärker. So langsam keimte der Verdacht in ihr, dass es doch kein falscher Alarm sei. Während des Mittagessens bemühte sie sich Haltung zu bewahren. Sie wollte keinen Aufruhr verursachen und zog sich gleich danach wieder in ihre Kammer zurück. Wie lange dauerten die Schmerzen jetzt schon an? Sie rechnete zurück und stellte erschrocken fest, dass etwa acht Stunden seit den ersten Wehen vergangen sein mussten. Es war Zeit, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen. Das Kind war unterwegs. Irina wartete den nächsten, schmerzfreien Intervall ab und quälte sich aus dem Bett, um die Hebamme zu holen. Der Weg durch die drückende Hitze des späten Nachmittags brachte sie völlig außer Atem, der kurze Fußmarsch vom Wohngebäude zu den Werks- und Arbeitsräumen erschien ihr unglaublich weit. Im Innern des Neubaus war es nur unwesentlich kühler. Es gab keine dicken Sandsteinwände, die die Sonne abschirmten. Schweißgebadet kämpfte Irina sich durch den langen Flur. Aus einer offen stehenden Tür kamen ihr vereinzelte Gesprächsfetzen entgegen. Sie warf einen Blick hinein, Schwester Benedicta und eine Gruppe der „Kloster auf Zeit“-Besucherinnen nähten hier kleine Kissen, die später mit dem getrockneten Lavendel befüllt würden. Nähmaschinen ratterten. Das Gespräch drehte sich um die Auslegung verschiedener Bibelstellen, wie Irina beiläufig registrierte. Seufzend lehnte sie sich in den Türrahmen und wurde auch gleich bemerkt. „Ich glaube, es ist so weit. Ich bin mir nicht sicher, aber die Wehen hören nicht mehr auf“, sagte sie, noch bevor die Nonne Zeit hatte, eine Frage zu stellen. Schwester Benedicta stockte für einen Moment der Atem, das angefangene Kissen in ihren Händen sank auf den Schoß, nur um plötzlich eilig beiseite gelegt zu werden. Die Augen der Nonne glitzerten vor Aufregung und Tatendrang. „Wie lange dauern sie schon an?“, fragte sie aufgeregt. „Seit dem Frühstück etwa.“ „Gütiger Himmel, du hättest schon viel früher was sagen müssen!“, zur Gruppe gewandt, meinte die Nonne: „Wir legen eine Pause ein, die Geburt geht vor.“ Sofort brach emsige Aufregung in dem Raum aus. Eine junge Frau wurde losgeschickt, um die Hebamme zu informieren. Man half Irina den weiten Weg zurück in ihre Kammer zu gehen und bereitete alles für die Geburt vor. Helfende Hände setzten Irina auf einen Stuhl, der plötzlich in einem Zuber stand. Irina fühlte sich ein wenig in der Zeit zurückversetzt, als das Gebären noch eine reine Frauenangelegenheit gewesen war. Die Hebamme traf ein, schwer beladen mit elektrischen Gerätschaften. Ein tragbarer Wehenschreiber wurde aufgebaut, Irina bekam Dioden auf den Bauch geklebt, den sie zuvor frei gemacht hatte. Die verstohlenen Blicke der vielen Helferinnen glitten über Irinas vernarbte Haut, das Rautenmuster auf ihrem Oberschenkel, doch der Körper forderte ihre ganze Aufmerksamkeit. Schwester Aloysia war auf einmal anwesend und rollte einen Beistelltisch in die winzige Kammer. Plötzlich war die kleine Zelle zum Bersten gefüllt, die Helferinnen wurden hinausgeschickt, nur die Hebamme, Aloysia und Benedicta leisteten Irina Beistand. Diese konnte die vielen Eindrücke nicht mehr verarbeiten und konzentrierte sich auf ihren Bauch, der unter einer neuen Wehe zu ziehen begann. Die Hebamme horchte die Herztöne des Kindes ab, und sie lauschten gemeinsam dem rhythmischen Schlagen des kleinen Herzens. „Dem Kind geht es fantastisch“, bestätigte die Hebamme. Durch Abtasten prüfte sie die Position des Kopfes und bekundete ihre Zufriedenheit. Irina konzentrierte sich auf die Wehe, die rasch an Intensität zunahm, und verzog das Gesicht. Die Nadel des Wehenschreibers schlug hektisch aus, die Hebamme lächelte. Alles verlief normal. Plötzlich ergoss sich ein Schwall warmer Flüssigkeit über Irinas nackte Schenkel und plätscherte in den Zuber. Die Fruchtblase war geplatzt, jetzt wurde es wirklich ernst. Irina brachte ein gequältes Lächeln zustande. Die Wehe schwoll immer noch an, die Schmerzen nahmen kein Ende, das Ziehen in ihrem Bauch wurde unerträglich. Sie klammerte sich an dem Stuhl fest und versuchte, kontrolliert zu atmen. Es gelang ihr nur teilweise. „Verdammte Scheiße!“, fluchte sie, um sich selbst ein wenig die Angst zu nehmen, ihr verzweifelter Blick, wurde mit einem beruhigenden, warmherzigen Lächeln der Hebamme beantwortet, die ihr noch nie so freundlich vorgekommen war. „Keine Angst Liebes, vor dir sind schon ganz andere Frauen Mütter geworden. Du bist stark, du hast so einen weiten Weg bewältigt, um hier her zu kommen, jetzt schaffst du auch die Geburt.“ „Ich hab eine Scheiß-Angst“, keuchte Irina fluchend. Sie schwitzte aus allen Poren, am liebsten wäre sie vor der Geburt davongerannt. Der Gedanke war so lächerlich, dass sie kurz und trocken über sich selbst lachen musste, „Oh, ich wünschte, ich könnte das einfach überspringen.“ Der Schmerz verebbte über lange Minuten ganz allmählich, und sie atmete tief und erleichtert auf. „Setzen Sie sich nicht unter Druck. Es kann noch eine Weile dauern, bis es so weit ist. Sie müssen sich ihre Kräfte noch gut einteilen. Die Wehen werden noch stärker werden, und dann müssen Sie noch genug Kraft haben, um das Kind bei der Geburt zu unterstützen.“ „Wie viel schlimmer wird es denn noch?“ „Nach dem Wehenschreiberdiagramm würde ich sagen, dass wir jetzt in der Übergangsphase sind. Die wird immer als sehr schmerzhaft empfunden, aber die Austreibungswehen sind um einiges heftiger.“ Irina versuchte ihre aufkeimende Panik herunterzuschlucken. „Um einiges heftiger“ waren keine angenehmen Aussichten.

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Miryam verließ den Fahrstuhl und ließ unschlüssig ihren Blick durch den Flur schweifen. Beide Richtungen sahen gleichermaßen nichts sagend aus. Sie wandte sich nach links, las aufmerksam die Firmenlogos auf den Milchglastüren, während sie dem Gang folgte. Mehrmals musste sie an die Wand herantreten, um die kleinen Schildchen neben den Türen zu studieren, wenn diese nicht mit einem großen Logo bedruckt waren. Der Flur führte in eine Sackgasse, doch das Logo der Kanzlei war nicht dabei gewesen. Sie musste noch einmal zurückgehen und die andere Richtung ausprobieren. Zur Hälfte hatte sie schon an der Existenz der Kanzlei gezweifelt, als sie endlich die Worte „Rechtsanwaltskanzlei Radek“ auf einer der letzten Türen am Ende des Flurs entdeckte. Miryam straffte sich und klopfte, wartete zwei Sekunden, bevor sie die Türklinke herunterdrückte und den Raum betrat. Sie wusste auf den ersten Blick, dass sie in eine Falle getappt war. Der Raum war leer, bis auf einen runden Tisch, auf dem eine vereinsamte Mappe lag. Die bereits tief stehende Sonne sandte goldgelbe Strahlen durch die großen Fenster. Miryam machte zwei Schritte in den Raum, drehte sich dabei um ihre eigene Achse, um den toten Winkel in Augenschein zu nehmen und stellte fest, dass sie entgegen ihrer Erwartung alleine war. Ihr geschulter Blick entdeckte die Lichtschranke, die sie bei ihrem Eintritt ausgelöst hatte, also musste in Kürze jemand hier auftauchen. In mehreren Ecken waren Kameras angebracht, sie lächelte freundlich in die Linse, dann näherte sie sich misstrauisch der Mappe auf dem Tisch, den Blick auf die Milchglastür gerichtet. Mit einer Hand legte sie ihre eigene Mappe ab und zog dann mit den Fingern die fremde Akte auf dem Tisch über die Platte, während sie um ihn herum ging, bis sie sich hinter dem Tisch und gegenüber der Tür befand, die sie nun im Blick behalten konnte, während sie die Akte untersuchte. Sie schlug den Deckel auf. Es war Irinas Fall, bildreich dokumentiert mit Ausdrucken der Mails. Miryam kannte die Bildserien bereits von der Festplattenrekonstruktion, doch die Fotos waren nicht identisch. Die Art und Weise, wie der Auftragsmörder seine Klientin auf diesen Bildern verewigt hatte, deutete einen privaten Verwendungszweck an. Ein fieser Schachzug, Miryam schüttelte angewidert den Kopf. Irina wäre sicher kreidebleich geworden, hätte sie die Mappe gesehen. Natürlich gab es neben den Fotos keine neuen Informationen, vor allem keine, die den Auftraggeber betrafen. Sie klappte die Akte wieder zu. Ein Schatten war hinter der Tür erschienen, die im nächsten Moment geöffnet wurde und ein großer Mann betrat den Raum. Miryam registrierte zuerst den stechenden Blick seiner eisblauen Augen, die hohen Wangenknochen, das spöttische Lächeln. Kein Zweifel, dies musste Nox sein, Irina hatte ihn gut beschrieben. Er trug eine graue Jeans und ein dunkelblaues T-Shirt, das viel von seinem durchtrainierten Körper preisgab. Jeder Muskel in Miryams Körper spannte sich. Das Holster, mit dem Messer an ihren Bein, begann auf der Haut zu jucken. „Ich fürchte, Sie haben sich verlaufen“, ergriff er das Wort mit einem belustigten Unterton, „dieses Büro wird in Kürze neu vermietet werden, aber zurzeit ist es noch nicht für Interessenten verfügbar. Sie sehen ja, dass der vorherige Mieter noch einigen Besitz hier abzuholen hat“, er machte ein Pause, um Miryams Reaktion zu prüfen, doch sie schwieg, lächelte nur freundlich und so fuhr er fort: „Sie können am Empfang ihre Adresse hinterlassen, man wird sie kontaktieren, wenn es so weit ist.“ Sie nickte bedächtig. Er legte tatsächlich ungewöhnlich viel Wert auf höfliche Umgangsformen. Sie ließ sich auf das Spielchen ein. „Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit. Ich schätze, der Raum ist für meinen Interessenten ein wenig zu klein, eine Besichtigung ist also nicht mehr nötig“, sie warf einen demonstrativen Blick auf die Fallakte und fuhr langsam fort, „Der ehemalige Mieter hat einen interessanten Steuerrechtsstreit hier liegen gelassen.“ Sie wandte sich wieder dem Killer zu und bedachte ihn mit einem scharfen Blick. Nox lächelte süffisant. „Dieser Fall ist sogar sehr interessant. Ich bin sicher, dass Ihr Interessent einiges dafür geben würde, im Gegensatz zu den Räumlichkeiten.“ Miryam schüttelte den Kopf, ein wenig überrascht, wie schnell der Killer auf das eigentliche Thema zu sprechen kam, dann lächelte sie freundlich: „Ich fürchte, die Akte ist unvollständig“, sagte sie mit gespieltem Bedauern. Nox grinste belustigt: „Sie sind gut informiert. Wenn Sie mich unterhalten, verrate ich Ihnen möglicherweise, was Sie wissen wollen.“ Er machte einen Satz auf Miryam zu, die reflexartig über den Tisch flankte und das Möbelstück so zwischen sich und den Auftragsmörder brachte. Verdammt, er war unglaublich schnell, und sie konnte ihn noch nicht einschätzen. Es war unklug, sich gleich auf eine Auseinandersetzung einzulassen. Er strahlte eine unverschämte Selbstsicherheit aus, die auf normale Menschen geradezu einschüchternd wirken musste. Nox trat einige Schritte zurück, schlenderte weiter in den Raum hinein und machte eine einladende Geste: „Nicht so schüchtern, wie Sie sehen, bin ich unbewaffnet, während Sie ein Messer auf der Innenseite der linken Wade tragen. Benutzen Sie es, wenn Sie sich dadurch sicherer fühlen.“ Miryam nickte ihm anerkennend zu. Er war wirklich gut, der erste Eindruck hatte sie nicht getäuscht. So langsam begriff sie, weshalb dieser Mann so ein Mysterium in der Szene war. Seine ruhige, höfliche Art, die gewählte Ausdrucksweise und das großspurige Auftreten mochten die meist grobschlächtigen und weniger intellektuell veranlagten Kollegen über die tatsächliche Gefahr hinwegtäuschen, die Nox verkörperte. Sie ließ ihn nicht aus den Augen, während sie das Messer aus dem Holster zog. „Wenn Sie mich so dazu auffordern, dann will ich Sie natürlich nicht enttäuschen“, sagte sie freundlich, „Obwohl ich lieber darauf verzichtet hätte.“

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Irina schrie. Hatten die Wehen der Übergangsphase schon eine deutliche Schmerzsteigerung dargestellt, so definierten die Presswehen den Begriff „Schmerz“ völlig neu. Keine von Nox‘ Foltermethoden hatte ihr so zugesetzt, wie diese im Minutentakt wiederkehrenden Wellen konzentrierter Pein. Sie war entkräftet, nass geschwitzt, hatte den ganzen Tag in den Wehen gelegen, Welle auf Welle steigender Schmerzen erduldet, geatmet, geschrien, geflucht, hatte zwischen den Wehen Momente aus endloser Langeweile erlebt, in denen die Zeit sich hinzog, bis sie die nächste Wehe herbeisehnte und hoffte, dass diese nun die entscheidende Phase einläutete. Am frühen Abend hatten die Wehen endlich ihren Höhepunkt erreicht. „Pressen“, befahl die Hebamme mit lauter Stimme über Irinas Schrei hinweg, „Das Köpfchen ist schon zu sehen. Jetzt strengen Sie sich an, holen Sie tief Luft und pressen Sie.“ Irina zwang sich, der Anweisung zu folgen, saugte Luft in die Lunge und presste. „Weiter, weiter, weiter, Sie machen das großartig, noch ein kleines Stückchen, weiter“, feuerte die Hebamme sie an, aber Irina hatte keine Kraft mehr. Der Druck, den das Kind zwischen ihren Beinen ausübte wurde unerträglich. „Noch einmal“, forderte die Hebamme. „Atmen Sie und schieben Sie.“ Irina sammelte verzweifelt die schwindenden Kräfte. Sie grunzte unter der Anstrengung. Sie brüllte, schrie, kreischte, die Stimme kletterte die Tonleiter nach oben, um irgendwo im hochfrequenten Bereich abzubrechen. „Hecheln, hecheln, hecheln“, rief die Hebamme wieder über die Schmerzen hinweg. Das Gefühl veränderte sich. „Wenn ich den Vater in die Finger kriege, bring ich ihn um!“, giftete Irina. Die Hebamme lächelte flüchtig. Solche Sprüche waren ihr bekannt, viele werdende Mütter beschimpften die Väter, wenn sie in den Wehen lagen, machten sie für die Schmerzen verantwortlich, drohten, ihnen vergleichbare Qualen zuzufügen, doch sobald sie ihr Kind in den Armen hielten, war der Schmerz vergessen. Die Ernsthaftigkeit hinter Irinas Worten blieb der Geburtshelferin verborgen. „Das Köpfchen ist durch, das haben Sie ganz toll gemacht. Atmen Sie erst einmal und sammeln Sie sich, bevor es zum Endspurt geht.“ Irina keuchte. „Ist mein voller Ernst, das zahl ich ihm heim“, bekräftigte sie. Schwester Benedicta tupfte ihr das Gesicht mit einem Tuch ab, Schweiß und Tränen vermischten sich auf der Haut zu einem fettigen Film. „Sie machen das ganz toll“, sagte sie mit Ehrfurcht in der Stimme. „Wieviel Zeit hab ich denn?“, fragte Irina matt. „Bis zur nächsten Presswehe, in etwa einer Minute, können Sie durchatmen und sich sammeln“, erklärte die Hebamme, „Ihr Kind wird ja noch durch die Nabelschnur versorgt.“ „Der Vater kann was erleben, wenn ich ihn in die Finger kriege“, wiederholte Irina noch einmal mit Inbrunst, während sie wieder versuchte, ihre Kräfte zu sammeln. Dann stöhnte sie schmerzerfüllt, als die nächste Presswehe heranrollte. „Sind Sie soweit?“, fragte die Hebamme. Irina nickte zustimmend und presste mit aller Kraft, klammerte sich an den Gedanken, dass dies der letzte Schub sein könnte, wenn sie sich nur genügend Mühe gab. „Schieben Sie, wunderbar, noch ein kleines bisschen, weiter, weiter, weiter, noch ein Stückchen, Sie haben es gleich geschafft, jetzt hecheln, hecheln, hecheln“, der Beistand der Hebamme mündete in einem freudigen Ausruf. Irina fühlte, dass sie es tatsächlich geschafft hatte. „Da ist er, möchten Sie ihn haben?“, in der Stimme der Hebamme vermischten sich Ehrfurcht, Freude und Begeisterung. Irina lächelte erschöpft, im nächsten Moment lag der kleine Säugling auf ihrer nackten Brust und wurde mit einem dicken, flauschigen Tuch zugedeckt. Im Hintergrund sagte Schwester Aloysia zur Hebamme: „Die genaue Geburtszeit war 19:24 Uhr, heute ist der 13. September.“ Nass, grau, faltig, die kleinen Äuglein zugekniffen, gab das kleine Wesen nur ein kurzes Quengeln von sich. „Hallo kleiner Wirbelwind, du hast es geschafft“, war alles, was Irina in diesem Moment zustandebrachte. Sie war völlig überwältigt, eine Welle aus Glück flutete durch ihren Körper, verdrängte die Anstrengungen der Geburt und ließ nur noch Platz für dieses kleine Wesen auf ihrer nackten Haut, das mit den winzigen Ärmchen und Beinchen wackelte, dabei so hilflos, schutzbedürftig und zerbrechlich aussah, dass Irina sich fast nicht getraut hätte, es zu berühren. Die eigenen Hände kamen ihr plötzlich so riesig vor, im Gegensatz zu diesem kleinen, faltigen Würmchen. Als die Hebamme die Nabelschnur durchtrennte und damit die Verbindung zur Mutter kappte, begann der Junge zu schreien. „Hey, du hast es wirklich geschafft“, stammelte Irina und strich über das winzige, schmierige Köpfchen, auf dem ein dünnes Büschel dunkler Haare spross. Rasch färbte sich die Haut rosig und die winzigen Augen öffneten sich. „Ich muss ihn dir noch einmal kurz entführen und die Erstuntersuchung machen, dann bekommst du ihn zurück“, sagte die Hebamme behutsam. Irina nickte, folgte der Geburtshelferin mit den Augen, die nebenan auf einem Beistelltisch den schreienden Säugling mit dem Tuch trocken rieb und begutachtete. „Alle Fingerchen sind dran, Füße, Zehen, sieht alles gut aus“, erzählte die Hebamme für Irina, die nicht alles sehen konnte, „Größe: 54cm, der Kopfumfang beträgt 35,5cm, Gewicht - nicht schummeln, schön in der Waage liegen bleiben - 3638g, ein gesunder Knabe.“ Sie wickelte den Säugling und brachte ihn zur Mutter zurück. „Hier ist er schon wieder.“ Irina nahm das Bündel entgegen. Das eingepackte Würmchen hatte sich wieder beruhigt und blickte nun zwinkernd und erschöpft aus eisblauen Augen in die Welt. Nox Augen. Die Farbe war jedoch die einzige Gemeinsamkeit, die der kleine Junge mit seinem Vater teilte. Während die Augen des Killers, einer Waffe gleich, eisige Blicke abschossen und darüber hinaus nichts von dem verrieten, was sich dahinter abspielen mochte, waren diese Augen wie große Fenster, die alles hinein ließen, was die Welt ihnen zeigen würde, unvoreingenommen, neugierig und ein wenig scheu. Irina fühlte den starken Drang, alles dafür zu geben, damit diese Augen niemals etwas Schlechtes, Grausames, oder auch nur Trauriges zu sehen bekamen. „Hallo Juri“, sagte sie noch einmal matt. Das rosige Würmchen in ihrem Arm antwortete mit einem kurzen Glucksen und zwinkerte wieder.

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Miryam duckte sich unter einem Schwinger weg, der auf ihr Gesicht zielte und schoss nach vorne. Das Messer zischte durch die Luft, verfehlte jedoch die Leber des Killers, als dieser sich blitzartig zur Seite drehte. Gleichzeitig führte er einen Tritt in ihre Richtung aus, und er holte bereits wieder Schwung, um mit einem Faustschlag nachzusetzen. Miryam wich dem Tritt aus, doch sie war zu langsam, um auch dem Schlag auszuweichen, versuchte ihn zu blocken und keuchte überrascht unter der brutalen Härte, die ihren Köper durchschüttelte. Der linke Arm sank, nutzlos und taub nach dem Treffer, zur Seite. Sie packte das Messer in der rechten Hand fester, umkreiste Nox wie eine Raubkatze, der seinerseits jeder ihrer Bewegungen folgte, bereit zu reagieren. Das spöttische Lächeln war einem konzentrierten Ausdruck gewichen, nur seine Augen funkelten ab und an und verrieten den Genuss, den er bei diesem Kampf empfand. Schon nach dem ersten Schlagabtausch hatte Miryam begriffen, dass Nox ihr überlegen war, und sie wusste, dass er nur mit ihr spielte. Ihre ganze Hoffnung stützte sich auf Irinas vage Vermutung, dass der Killer von ihr besessen sei. Mit der Beschreibung seines Bewegungsablaufs hatte sie völlig richtig gelegen. Es war unmöglich, dieses Ineinanderfließen der einzelnen Teilbewegungen zu beschreiben, alles war miteinander verbunden, eine Gewichtsverlagerung konnte eine Vielzahl von Angriffen bedeuten, ein kleiner Schritt zur Seite, die Vorbereitung auf einen Tritt, Schlag, oder Drehung sein. Er war unglaublich schwer einzuschätzen, und wenn es Miryam einmal gelang, seinen Angriff vorauszusehen, dann bedeutete das immer noch nicht, dass sie auch in der Lage war darauf zu reagieren, denn er war verdammt schnell. Einen weiteren Treffer konnte sie nicht riskieren, dieser eine war schon zu viel gewesen und schwächte sie mehr als erwartet. Sie musste sich etwas einfallen lassen. Als sie vorstieß, hatte Nox den Angriff bereits vorausgesehen und empfing sie mit einem Schlag gegen den Unterarm, der ihr das Messer beinahe aus der Hand prellte. Blitzschnell warf sie es in die andere, auch wenn der Arm nur langsam auf Befehle reagierte. Sie drehte sich seitlich unter einem Tritt hindurch, den sie nur als vage Bewegung aus dem Augenwinkel wahrgenommen hatte, das Messer zuckte nach vorn, zerschnitt das T-Shirt des Killers, dann traf sie etwas zwischen die Schultern und trieb ihr Luft aus der Lunge. Diesen Treffer hatte sie nicht kommen sehen. Miryam stolperte, knickte mit einem Bein ein und musste sich mit einer Hand am Boden abstützen. Nox entfernte sich ein paar Schritte, umkreiste die hustende Frau, die japsend nach Atem rang. „Sie sind ja richtig ernst bei der Sache“, kommentierte er spöttisch, als sei dies ein Trainingskampf und kein bitterer Ernst, „Jetzt muss ich mir wohl ein neues Hemd kaufen.“ „Ist das alles, was Sie interessiert?“, stichelte Miryam, um seine Reaktion auszutesten, „Sie bluten.“ Nox deutete ein Kopfschütteln an. „Die Haut repariert sich von alleine, im Gegensatz zu meiner Kleidung. Wenn Sie mich ernsthaft herausfordern wollen, müssen Sie sich mehr anstrengen.“ „Sie bringt wohl gar nichts aus der Ruhe“, meinte Miryam konsterniert. „Nicht viel“, Nox‘ Augen blitzen belustigt auf, „Sie haben mir noch gar nicht verraten, weshalb Irina nicht persönlich her gekommen ist.“ „Sie haben nicht gefragt“, Miryam grinste. „Verraten Sie es mir?“, er schenkte ihr ein perfekt geschauspielertes, gewinnendes Lächeln, das ihn beinahe freundlich wirken ließ. „Vielleicht“, Miryam richtete sich wieder auf, die kurze Verschnaufpause, die der Killer ihr gewährt hatte, hatte ihre Reserven ein wenig aufgeladen, „Wenn Sie mir Name und Adresse des Auftraggebers nennen.“ „Das klingt ja beinahe nach einem fairen Informationsaustausch. Ich werde darüber nachdenken. Haben Sie sich ein wenig entspannt?“, er bedachte Miryam mit einem prüfenden Blick, „Oder wollten Sie schon aufgeben?“ „Wo denken Sie hin? Nur weil Sie mir überlegen sind, gebe ich doch nicht gleich auf“, Miryam brachte ein schiefes Lächeln zustande. Der linke Arm hatte sich ein wenig erholt, wenn sie es vor ihm verbergen konnte, hätte sie vielleicht einen kleinen Vorteil. Er nickte ihr zu, einerseits ihre Ehrlichkeit anerkennend, aber auch um zu signalisieren, dass er bereit für die nächste Runde war. Miryam näherte sich wieder vorsichtig, ließ den verletzten Arm ein wenig hängen und hielt sich vorerst knapp außerhalb seiner Reichweite. Wieder umkreisten sie sich. Dann sprang sie vor, ließ sich gleichzeitig auf die Hände fallen, um ihrem Gegner mit einem Tritt die Füße wegzuziehen, doch er reagierte blitzschnell, blockte den Angriff und schlug nach Miryams Gesicht, die sich gerade noch wegdrehen konnte, während sie gleichzeitig das Messer warf, präzise auf die Milz des Killers gezielt. Ein Schlag mit der flachen Hand schleuderte es unschädlich davon. Auf dem dicken Teppich machte es nur ein leises, dumpfes Geräusch. Im nächsten Moment war Nox heran und landete einen Treffer gegen Miryams Solarplexus, dem sie nicht mehr ausweichen konnte und zu blocken versuchte, doch ihre Arme wurden einfach beiseite gewischt. Nox Faust war ein Vorschlaghammer, der ihr erneut die Luft aus der Lunge presste. Ein weiterer Schlag traf ihren Nacken. Die eingesetzte Kraft war genau berechnet, nicht so hart wie der vorangegangene Schlag, der sicherlich ernsten Schaden an dieser Stelle angerichtet hätte, sondern gerade ausreichend, sodass sie jegliche Kontrolle verlor. Der Boden kippte auf sie zu und wieder weg, als Nox sie an den Haaren packte und festhielt, damit sie nicht fiel. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen, sie bekam immer noch keine Luft, doch Miryam brauchte nicht zu sehen, um zu wissen, wo der Killer stand. Sie sammelte noch einmal ihre Reserven, packte seine Hand, die sich in ihre Locken krallte, hängte ihr ganzes Gewicht daran, gleichzeitig schossen ihre Beine vor, um als Hebel zu fungieren, Nox aus dem Gleichgewicht zu bringen und über sich hinwegzuschleudern. Es funktionierte nicht. Sein Stand war unerschütterlich, sie baumelte an seinem Arm, ohne eine Chance, ihn auch nur zu einem Ausfallschritt zu zwingen. Schließlich suchten ihre Beine wieder festen Stand, und er ließ ihre Haare los. Miryam landete unsanft auf dem Hintern. Nox machte ein belustigtes Geräusch, das ein Lachen sein mochte, und umkreiste sie. „Der Versuch war nicht schlecht, ich bin sicher, dass Sie bei jedem anderen Gegner Erfolg gehabt hätten“, kommentierte er süffisant. „Vielen Dank für die Blumen“, Resignation schwang in Miryams Stimme mit, sie rappelte sich auf und keuchte vor Schmerz, langsam gingen ihr die Möglichkeiten aus, und ihre Kräfte neigten sich dem Ende zu. Ein spöttisches Lächeln umspielte die Lippen des Killers, der zu warten schien. Miryam holte tief Luft und nahm ihn erneut ins Visier. Offensichtlich erwartete Nox, dass sie noch einmal angreifen würde, obwohl beiden klar war, dass es keinen Sinn mehr hatte. Wo lag das Messer? Ihr Blick ruhte weiterhin auf dem hochgewachsenen Auftragsmörder, während sie aus dem Augenwinkel eine Unregelmäßigkeit auf dem Boden suchte. In Gedanken rekonstruierte sie Richtung und Flugbahn der Waffe, als Nox sie abgewehrt hatte, dann warf sie sich zur Seite, rollte über den Teppich, die rechte Hand schloss sich zielsicher um den Griff der Klinge und noch bevor sie wieder auf die Beine kam, warf sie blindlinks nach Nox‘ Schatten. Er wehrte auch diesen Angriff souverän ab, hechtete vor und holte zu einem gewaltigen Schlag aus. Miryam rollte erneut über den Boden, versuchte in die andere Richtung auszuweichen, doch hier erwartete sie bereits ein Tritt, der ihre Schulter traf, als sie sich aufrichten wollte. Mit einem unterdrückten Schmerzenslaut brach sie zusammen, Teppichfasern drangen zwischen ihre Lippen, eine Fluse auf der Zunge löste einen würgenden Hustenanfall aus. „Sind Sie schon müde?“ Nox Worte bahnten sich undeutlich einen Weg durch das Rauschen in Miryams Ohren. Sie hätte gerne geflucht, doch die Höflichkeit, die der Killer ihr entgegenbrachte, erlaubte keinen verbalen Ausrutscher. „Ich entschuldige mich dafür“, würgte sie undeutlich hervor, bemüht, nicht auf den Teppich zu erbrechen und damit ihre Würde zu beschädigen. „Wie schade, es war ein sehr kurzes Vergnügen, aber durchaus amüsant.“ Miryam hörte, wie er hinter sie trat, konnte sich aber kaum noch bewegen. So hatte sie auch keine Gegenwehr, als er einen schweren Arm von hinten um ihren Hals legte und ihr schon wieder den Atem raubte. Nox‘ Stimme erklang dicht neben ihrem rechten Ohr: „Warum ist Irina nicht persönlich gekommen?“ „Sie hat gewusst, dass dies eine Falle ist“, antwortete sie mit dünner werdender Stimme, unter dem Druck des Killers. „Wenn Sie eingeweiht sind, wie stehen Sie dann zu ihr? Sind Sie befreundet mit Irina?“, das Grinsen des Killers schwang deutlich in seiner Stimme mit. „Ich wurde als Leibwächterin angeheuert“, presste Miryam hervor, langsam wurde die Luft knapp. Sie erinnerte sich an Irinas Bericht, Nox habe alle Freunde und Familienmitglieder umgebracht. Eine neue Freundin wäre wohl ein gefundenes Fressen für ihn. „Ihre Fähigkeiten sprechen dafür, aber ihr Erscheinen hier legt einen anderen Schluss nahe, und ich schätze es nicht, belogen zu werden.“ Der Druck auf ihren Hals wurde stärker. Miryam war kaum noch in der Lage, die nächsten Worte auszusprechen. Wieder tanzten schwarze Punkte vor ihren Augen. „Meine Aufgabe ist es Irina zu schützen, notfalls, vor sich selbst. Sie wollte kommen. Ich habe es verboten. Sie hat keine Ruhe gegeben, sodass ich mich bereit erklärt habe, die Lage auszukundschaften, weil es so offensichtlich eine Falle -“, der Rest des Satzes erstarb in einem heiseren Flüstern. Für einen unendlichen Augenblick schien es, als wollte der Killer Miryam erwürgen, doch plötzlich lockerte sich sein Griff ein wenig, und sie japste keuchend nach Luft, auch wenn er ihr nicht viel davon gestattete. „Sie sind also tatsächlich eingeweiht. Ich vermute, Sie haben ihr auch ein wenig Unterricht in Selbstverteidigung erteilt“, Nox Stimme klang merkwürdig, beinahe freudig erregt. Er schien mit sich selbst im Zwiespalt, sog scharf die Luft ein, bevor er schließlich fort fuhr: „Ich mache Irina ein Angebot. Richten Sie ihr Folgendes aus: Innerhalb der nächsten zwei Monate gewähre ich ihr zehn Minuten mit ihrem Auftraggeber. Ich werde dort sein und sie erwarten. Wenn die zehn Minuten um sind, hole ich sie mir. Falls sie die Frist verstreichen lässt und innerhalb der nächsten zwei Monate nicht erscheint, wird sie niemals erfahren, was sie wissen will“, er nannte einen Namen und eine Adresse, dann gab er Miryam frei, „Sie kann wählen, wie wichtig die Antworten sind, die sie sucht.“ Miryam sank in den Teppich, pumpte gierig Luft in die Lungen und wartete, dass sich der Schleier vor ihren Augen lichtete. Als sie sich schließlich aufrappelte, war sie allein. Der Raum wirkte völlig unberührt, nichts deutete auf den Kampf hin, der hier stattgefunden hatte. Nox hatte ihr Messer entfernt. Sie rappelte sich auf und trat den Rückweg an, erleichtert und euphorisiert, dass sie die Begegnung mit dem Mythos der Szene unbeschadet überstanden hatte und auch noch erfahren hatte, was sie wissen wollte.

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Juris Weinen riss Irina aus dem Schlaf. Es war dunkel geworden. Die Anstrengungen der Geburt lagen hinter ihr, sie hatte keine Schmerzen mehr, nur eine matte Erschöpfung steckte ihr noch in den Gliedern. Sie quälte sich aus dem Bett und tappte zu dem kleinen Stubenwagen, in dem der Säugling lag und nach Nahrung verlangte. „Schon wieder hungrig? Das ging ja fix“, sagte sie schlaftrunken und nahm ihn behutsam auf den Arm. Sofort erstarb das Weinen und wich einem leisen Quengeln. Irina setzte sich auf die Bettkante, gab ihm die Brust, bis er satt war, legte ihn an die Schulter und wartete auf das Bäuerchen. Es klopfte an der Tür. „Miryam? Komm rein, ich bin wach.“ Die Leibwächterin betrat den Raum mit einem breiten Grinsen, ihre Augen strahlten. „Da bin ich einmal weg, und du bekommst ohne mich das Kind, schämst du dich nicht?“ Irina strahlte zurück. „Die Schuld liegt ganz bei ihm, plötzlich hatte er es furchtbar eilig, auf die Welt zu kommen.“ „Wie heißt er denn?“ „Juri.“ „Gefällt mir, du hast dir die Sache mit dem Namen also doch spontan überlegt, oder?“ „Stimmt, ich weiß auch nicht. Vorher konnte ich mich nicht entscheiden, und dann, als ich ihn sah, hatte ich das Gefühl, dass er ein Juri wird. Weißt du, wie der Kosmonaut, jemand, der über die Grenzen des Bekannten hinausgeht und etwas Neues entdeckt, was es zuvor nicht gab. Jemand, der etwas verändert. Jedenfalls wünsche ich es ihm, denn mehr werde ich wohl nicht leisten können“, sie zuckte andeutungsweise mit den Schultern, um den Säugling nicht zu sehr zu bewegen, „Natürlich hoffe ich, dass es etwas Gutes sein wird.“ Miryam nickte verstehend: „Ein schöner Name.“ Der Säugling auf Irinas Arm rülpste leise. „Möchtest du ihn mal halten?“ „Ja gern.“ Miryam setzte sich neben Irina und nahm vorsichtig das rosige Würmchen auf den Arm. „Hallo Juri, was wirst du wohl später mal werden?“ Zur Antwort brach der kleine Junge in Geschrei aus. „Oh, ich glaube, er mag mich nicht.“ „Ach was, ich schätze, er merkt schon, dass du nicht Mama bist, und das gefällt ihm nicht“, seufzte Irina. Miryam reichte ihr lächelnd den weinenden Jungen zurück. „Ist ja gut“, tröste die Mutter ihren Sohn, „Kein Grund zur Aufregung. Wir gehen jetzt wieder schön ins Bett.“ Juri schien nicht überzeugt von dieser Idee, denn er plärrte einfach weiter. Irina lief in der engen Kammer eine Weile auf und ab und summte ein leises Schlaflied, bis er sich endlich müde geweint hatte und auf dem Arm seiner Mutter einschlief. Behutsam legte sie den Säugling in sein Bettchen. Mit einer stummen Geste bedeutete sie Miryam, dass sie vor die Tür gehen wollte, und sie schlichen leise aus dem Raum, um das Kind nicht wieder zu wecken. Nebenan, in Miryams Zimmer, bedrängte Irina die Freundin sofort mit Fragen: „Wie war es? Bist du ihm begegnet? Was hat er gesagt? Hat er dich verletzt?“ „Alles gut“, unterbrach Miryam, dachte schuldbewusst an die schmerzenden Glieder und hob beschwichtigend die Arme. „Ich bin ihm tatsächlich begegnet. Ich muss gestehen, du hast nicht untertrieben, er ist -“, sie suchte nach den richtigen Worten, „- ein unheimlicher Mensch. Schwer einzuschätzen, aber er steht zu dem, was er sagt.“ Ihre Mine verdüsterte sich. „Erzähl schon, lass dir nicht jedes Detail aus der Nase ziehen.“ „Kurz gesagt: Er hat dir ein Angebot gemacht. Du bekommst zehn Minuten mit seinem Auftraggeber, wenn du in den nächsten zwei Monaten bei ihm auftauchst, aber er erwartet dich dort. Mir gefällt die Idee nicht, wenn ich ehrlich bin. Seine Worte waren: „Dann hole ich sie mir.“ Und das beinhaltet eine Menge verdammt mieser Optionen.“ Irina überhörte das. „Du hast also tatsächlich die Identität des Auftraggebers und auch noch seine Adresse bekommen?“ „Ja, schon, aber -“ „Raus damit! Ich will, ich muss es wissen!“ Miryam seufzte: „Der Name lautet Herbert Neumann.“ Irinas Augen wurden groß, eine kribbelnde Unruhe ergriff von ihr Besitz, aufgeregt wanderte sie in der kleinen Kammer umher. „Neumann, Neumann, warte, das sagt mir was.“ „Das ist ein Allerweltsname, Irina. Bist du dir sicher, dass dir das was sagt?“ „Ja doch, warte, ich komm gleich drauf. Herbert Neumann, der Name erinnert mich an die Gerichtsverhandlung gegen Karstens Mörder“, sie blieb stehen und starrte Miryam an, „Oh, jetzt fällt es mir wieder ein! Das war der Rechtsanwalt, der Karstens Mörder vor Gericht vertreten hat!“ Dann breitete sich Verwirrung auf ihrem Gesicht aus. „Warum sollte ein Rechtsanwalt mir einen Auftragsmörder schicken? Meinst du, er hat im Auftrag des Mörders gehandelt?“ „Wie hieß er denn?“ „Ostkamp, Robin Ostkamp. Er war damals grade volljährig geworden und völlig auf Drogen. Er hat im Rausch meinen Verlobten totgeprügelt.“ Irina stellte überrascht fest, dass die Erinnerung an diese Ereignisse kaum noch Gefühle in ihr hervorrief. Sie kramte in ihren Erinnerungen, um noch mehr Details wachzurufen. Schließlich runzelte sie die Stirn. „Während des Gerichtsverfahrens war ich noch emotional aufgewühlt und habe viele Dinge nicht wahrgenommen. Ich erinnere mich aber noch daran, dass Ostkamps Anwalt sich furchtbar aufregte, weil sein Antrag für eine Verurteilung nach dem Jugendstrafrecht abgelehnt wurde. Der Staatsanwalt legte ein langes Strafregister vor und zeigte auf, dass Ostkamp schon eine längere Drogenkarriere mit allerlei kleinen und mittelschweren Delikten hinter sich hatte, als er noch minderjährig gewesen war. Der Junge wurde deshalb, gemäß seines Alters, nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilt, und der Staatsanwalt setzte sich auch noch mit der Anklage auf Mord durch. Ostkamps Anwalt ist fast ausgerastet. Das ärgerte mich damals unglaublich, weil ich davon überzeugt war, dass er einfach nur einer dieser erfolgsgierigen Rechtsverdreher sei, der nicht mit einer Niederlage umzugehen wusste. Ich maß dem aber keine weitere Bedeutung zu.“ Sie zuckte mit den Schultern, blickte ratlos zu Boden, dann wieder zu Miryam. „Ich muss wissen, was dahinter steckt. Den Rechtsverdreher knöpf ich mir vor“, sagte sie grimmig. Miryam sah sie nachdenklich an. „Du weißt, dass du ein anderes Leben haben könntest. Wenn du die Sache auf sich beruhen lässt, könntest du Juri behalten und einfach untertauchen. Nox lässt dir die Wahl, das hat er ausdrücklich betont.“ Irina seufzte, versuchte sich wieder einmal vorzustellen, wie dieses Leben aussehen würde. Juri, der seine ersten Schritte macht, das erste Wort spricht, ein neuer Job, den sie vormittags ausüben könnte, wenn der kleine Wirbelwind in der Kita wäre. Gutenachtgeschichten im Kinderzimmer, Spinat und Spiegelei auf Kartoffelpüree, Ausflüge in den Zoo, Besuche auf dem Spielplatz, Pflaster auf Schürfwunden, Diskussionen über fünf Minuten länger Wachbleiben-Dürfen, die ersten Hausaufgaben, der erste Wackelzahn. Aber irgendwann würde er Fragen stellen. Fragen, die Irina das Herz brechen und Juris kindliche Welt zertrümmern würden. Fragen, die sie nicht mit einer Lüge beantworten konnte, das fühlte sie schon jetzt. Auch fühlte sie wieder eine unbestimmte Angst, die die Aussicht auf das Familienleben trübte. Sie würde immer misstrauisch bleiben, ständig gequält von der Frage, wie viel von Nox in Juri steckte. Ob er zu ähnlicher Grausamkeit fähig wäre? Diese Zweifel, diese Voreingenommenheit konnten einem Kind nicht verborgen bleiben. Das musste einen schlechten Einfluss auf ihn haben, und vielleicht würde sie es grade dadurch provozieren. Nein, lieber gab sie ihn weg. In liebevolle, fürsorgliche Hände, die nichts von diesen Verflechtungen wussten. „Ich kann ihn nicht behalten“, sagte sie schlicht, aber in ihrer Stimme schwang Bedauern mit. Miryam seufzte. „Dann hast du dich also entschieden?“ „Definitiv. Ich bring das zu Ende, und Juri bekommt Eltern, die ihn unvoreingenommen lieben können.“


reihe/there_aint_no_justice/kapitel_8.txt · Zuletzt geändert: 04.11.2020 14:15 von hikaru_mitena