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Lippen wie Wein

Die Gespräche, die den jungen Mann umgaben, waren leer. Sie quollen über vor Inhaltslosigkeit, und doch war er gezwungen, daran teilzuhaben.

Schließlich war er der Erbe einer IT-Firma, die an der Entwicklung einer künstlichen Intelligenz arbeitete, durch die die Meinungsbildung nicht nur beeinflusst, sondern aktiv gelenkt werden könnte. Und so versuchten verschiedenste Politiker eifrig, die Gunst des jungen Mannes zu gewinnen, um ihre Finger eventuell etwas früher auf diesen Algorithmus legen zu dürfen, als die Konkurrenz.

Der goldene Champagner in seinem Glas war unberührt. Er musste wider Willen einen klaren Kopf bewahren. Die lächelnden Frauen und Männer um ihn herum warteten nur auf einen Moment der Unachtsamkeit. Sie warteten, lauerten, planten.

Währenddessen amüsierte sich sein jüngerer Bruder mit den Gästen. Er trank und lachte und forderte hin und wieder sogar eine der Damen zum Tanz auf.

Sein Gemüt verfinsterte sich ein Stück mehr. Wie sehr er diese Menschen doch verabscheute. Alle dachten sie, sie seien etwas Besseres. Dabei taten sie nichts anderes, als leere Reden zu schwingen und hin und wieder gut auszusehen. Dies taten sie auch diesmal, begleitet vom leisen Spiel eines Streichquartetts.

Sein Bruder war da nicht anders. Er erbte dieses Schicksal schließlich nicht. Seine Zukunft war nicht mit seiner Geburt für ihn festgeschrieben worden. Alles, was er tun musste, war, sich halbwegs zu benehmen, um den Namen der Familie nicht in den Dreck zu ziehen. Ansonsten hatte er alle Freiheiten der Welt.

Der junge Erbe lehnte sich auf seinem mit goldenem Samt überzogenen Stuhl zurück und nahm nun doch sein Glas Champagner in die Hand. Ein, zwei Gläschen würden schließlich keinen Schaden anrichten.

Das klare, kalte Getränk benetzte kaum seine Lippen, als sich die Musik langsam ins Nichts verlor. Ein genervter Zug breitete sich auf seinem Gesicht aus. Ohne die leise Melodie im Hintergrund waren die Gespräche noch unerträglicher als ohnehin schon. Er drehte sich zu dem Quartett, welches schweigend zur Eingangstür sah und anscheinend auf etwas wartete. Sein Blick folgte den ihren. Kurz darauf öffnete sich die Tür.

Ein stolz erhobenes Haupt, eine kerzengerade Haltung und selbstbewusste, lange Schritte.

Der neue Gast lächelte ein mit tiefen Grübchen besetztes Lächeln und ging zu den Musikern. Das tiefschwarze, enge Kleid glitt über den Boden, was auf dem dunkelroten Teppich, der in den Saal führte, geradezu königlich aussah. An ihrem Arm glänzte ein schlichtes, goldenes Armband.

Der junge Mann hob beide Augenbrauen, während er die junge Frau weiterhin musterte, die mit ihrer Präsenz den gesamten Raum zum Schweigen gebracht hatte.

Wilde, schwarze Locken fielen ihr über die Schultern, die sie hin und wieder zurückstrich, während sie sich leise mit den Musikern unterhielt. In ihrem Seitenprofil erkannte er einen Höcker auf der Nase, der ihm bei anderen Frauen eine abfällige Bemerkung entlockt hätte. Doch ihr schenkte dieses Attribut die Erhabenheit einer griechischen Göttin.

Der Violinist schien eine Bemerkung zu machen, die die Frau perlend zum Lachen brachte.

Der junge Mann vergaß das Glas in seiner Hand, vergaß das Vakuum der Gespräche, vergaß sogar seinen eigenen Namen.

Wer konnte diese Frau nur sein? Ein Gast? Eine Musikerin?

Sie klopfte dem blonden, sportlich gebauten Violinisten auf die Schulter und ging dann weiter in Richtung des weißen Flügels, der einen perfektem Kontrast zu ihrem schwarzen Kleid bildete.

Elektrizität fuhr durch den Saal und die Luft knisterte im abrupt eintretenden Schweigen, als die Finger der jungen Frau die Tastatur berührten.

Sein Herz setzte einen Schlag aus, als sie zu spielen begann.

Er schaffte es kaum, einen klaren Gedanken zu fassen, konnte sie nur ansehen und dem Spiel einer Muse zuhören.

Das warme Licht der Feier brachte die gebräunte Haut der Pianistin zum Leuchten, während alles andere um sie herum erst verschwamm und dann vollkommen verschwand. Ihre schwarzen Locken fielen ihr verspielt ins Gesicht, doch sie ließ sich dadurch nicht von ihrem Spiel ablenken.

Elegant, mystisch, wie eine schwarze Rose, stach sie im Weiß und Gold des Saals hervor, zog durch ihr Spiel wie ihre Erscheinung alle Aufmerksamkeit auf sich. Auch wenn sie ein gutes Stück vom jungen Erben entfernt war, konnte dieser nicht anders, als jede Regung, jedes noch so kleine Zucken in ihrem Gesicht zu beobachten, sich von ihr vereinnahmen zu lassen und-

„Junger Herr?“ Die leise Stimme eines Kellners brachte ihn mit einem Zucken zurück ins Hier und Jetzt. Er blinzelte träge und drehte ganz langsam den Kopf zu dem brünetten Mann mit dem Allerweltsgesicht, der ihn wartend ansah.

„Verzeihung. Ich habe Ihre Frage nicht gehört. Könnten sie diese wiederholen?“ Der junge Mann lächelte charmant und hob das Glas Champagner an, um davon zu trinken. Nur um zu bemerken, dass es leer war.

„Darf ich Ihnen einen neuen Champagner bringen?“

Rote Scham jagte dem Mann ins Gesicht, als er zum marmornen Boden sah, auf dem sich eine große, klare Pfütze befand. „Oh, das tut mir wirklich leid! Ich habe wohl nicht aufgepasst!“

Der Kellner winkte ab. „Die Pianistin spielt wirklich hinreißend, nicht wahr?“

Er nickte und sah nachdenklich zur Musikerin. Ihre Augen hatte sie in der Leidenschaft des Spiels geschlossen, während ihre schlanken Finger wie schwerelos über die Tasten tanzten.

„Können sie bitte zwei Champagner bringen? Einen für mich und einen für die junge Dame“, kam es beinahe verlegen von dem jungen Mann und der Kellner nickte mit einem Lächeln. „Sehr gern. Die junge Dame scheint allerdings Rotwein zu bevorzugen, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten“.

„Dann bringen Sie mir bitte zwei Rotwein“. Der junge Erbe starrte unverwandt zu der geheimnisvollen Schönen am Flügel.

Der blonde Violinist gesellte sich zu ihr und begleitete ihr Spiel mit seinem Instrument. Objektiv betrachtet, ergänzten sich die Beiden wunderbar, doch subjektiv… Der Mann verzog unwillig den Mund und schüttelte den Kopf. Für ihn war das Violinspiel lediglich eine Verunreinigung des Klavierspiels der Frau.

„Viel Erfolg“. Aus der Stimme des Kellners klang ein breites Lächeln heraus, als er zwei Gläser Rotwein auf den Tisch stellte und dann lautlos verschwand.

Der junge Mann wischte sich die Hände an der weißen Anzughose ab und stand auf. Das Klavierspiel schien sich zum Ende zu neigen und er wollte nicht, dass jemand anderes –vor allem nicht sein Bruder— die Pianistin eher erreichte. Mit den beiden Weingläsern in den Händen ging er zu ihr und wartete.

So wie ihre Finger über die Tasten des Klaviers tanzten, tanzten zahlreiche Sommersprossen über ihre von der Sonne geküsste Haut, während ihre Lippen, so rot wie der Wein in den Gläsern, zu einem entspannten Lächeln gekräuselt waren. Wieder fielen ihm die tiefen Grübchen auf, die das Lächeln auf eine Ebene des Liebreizes hoben, die er sich nie hätte ausmalen können.

Und als der letzte Ton ihres Spiels verklang, öffnete sie die Augen und das tiefe, dunkle Braun geschmolzener Schokolade strahlte ihm mit einer fragend erhobenen Braue entgegen.

Er öffnete den Mund. Schloss ihn wieder. Schließlich hielt er ihr einfach eines der Weingläser hin. „Sie… Sie müssen durstig sein. Ihr Spiel war atemberaubend“.

Von der jungen Frau, die kaum älter als Mitte Zwanzig zu sein schien, kam ein leises Kichern, das ihn zum Schaudern brachte.

„Vielen Dank. Für das Kompliment und für den Wein. Lassen Sie mich raten: Der brünette Kellner hat Ihnen verraten, dass ich Rotwein liebe. Stimmt’s?“

Ihre Stimme war weich, warm und überraschend tief. Doch das erhöhte ihren Charme in seinen Augen nur noch mehr. Sie nahm das Weinglas so behutsam an sich, dass er sogar Zeit hatte, flüchtige seine verzogene Spiegelung in ihren tiefrot lackierten Fingernägeln zu betrachten. Seine Augen waren aufgeregt aufgerissen, das Lächeln auf seinen Lippen war ungewohnt nervös und sein helles Haar saß auch nicht mehr perfekt in einem Seitenscheitel. Hastig versuchte er, sein Haar zu richten, was das Lächeln im Gesicht der Frau nur noch breiter werden ließ. Sie nippte genussvoll am Wein. Das Streichquartett spielte ein neues Lied.

„Schade, das war es heute wohl mit meinem Auftritt hier. Aber was soll ich sagen? Ich will ja nicht zu spät zu meinem nächsten Auftrag kommen“. Sie stand auf, schwenkte nachdenklich den Wein und trank diesen dann aus. „Vielleicht sieht man sich ja wieder. Wer weiß?“ In ihren dunklen Augen lag ein schelmischer Glanz, der das Herz des Mannes ein weiteres Mal für einen Schlag aussetzen ließ.

Sie hob eine Hand zum Gruß und ging dann genauso stolz aus dem Saal, wie sie ihn auch betreten hatte.

Sein Blick folgte ihr noch, als sie schon gar nicht mehr zu sehen war.

Es kam selten vor, dass ihn eine Frau so sehr davonriss, doch die Pianistin hatte eine Präsenz, die ihresgleichen suchte. Verträumt sah er zu den Tasten, die sie spielend leicht bedient hatte.

Etwas Goldenes glänzte auf der Ablage neben dem Flügel und zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Das war doch… Er nahm das Armband an sich und sah zur Tür. Hatte sie es vor dem Spiel abgelegt und dann vergessen, es wieder anzuziehen?

Sein Blick pendelte zwischen Ausgang und Armband. Sollte er..?

Ein kurzer Blick in den Saal genügte ihm, um seine Entscheidung zu treffen.

Inhaltslose Hüllen folgten ihm mit ihren Augen, als er der jungen Frau hinterher eilte. Weit konnte sie schließlich noch nicht gekommen sein, oder?

Anders als im Festsaal war es draußen dunkel. Hier und da flackerte ein kleines Lichtlein, das den Weg zum Gebäude weisen sollte, doch viel brachte es ihm nicht. Er verzog verstimmt den Mund. Wieso hatte er auch sein Handy auf dem Tisch liegen gelassen? Jetzt hatte er keine Lichtquelle…

Nachdenklich kratzte er sich am Nacken und machte einige weitere Schritte vorwärts. Unter seinen Schuhen knirschte Kies. Im Gebüsch zirpten Grillen. Doch von der Frau war nicht die geringste Spur zu sehen.

Ein tiefes Seufzen verließ die Lippen des jungen Mannes. Natürlich hatte er sie verpasst. Was denn auch sonst? Das Glück war ihm an diesem Abend wahrlich nicht hold.

Er massierte sich die Schläfen und drehte sich um, um wieder in den Saal zurückzukehren.

Das leise Klacken von Absätzen auf Asphalt.

Er zog aufmerksam die Augenbrauen hoch und lauschte konzentriert. Tatsächlich. Sie musste bereits den Parkplatz erreicht haben, also durfte er sich nicht erlauben, noch mehr Zeit zu verschwenden.

Ohne Zögern steuerte er auf die abgelegenen Parkplätze zu, stets nach der Pianistin suchend.

Die kühle Nachtbrise wisperte ihm Geheimnisse zu, die niemand verstand. Die elegant gesetzten Pflanzen griffen nach dem Mann, doch er strich die Blätter von sich, ignorierte das Flüstern der Nacht. Nicht einmal das Kichern der Sterne erreichte die Aufmerksamkeit des Mannes.

Alles, was er wollte, war, der Frau ihr Armband zurückzugeben. Vielleicht würde sie ihm dann sogar ihren Namen verraten. Ihm ihre Nummer geben.

Ein breites Lächeln stahl sich auf sein Gesicht.

Warm.

Er erstarrte. Etwas Warmes hatte seinen Nacken gestreift. Augenblicklich drehte er sich um, doch alles, was er sah, waren die knorrigen Zweige eines dekorativ geschnittenen Buchsbaumes.

Hatte er sich die Wärme nur eingebildet, als ihn ein paar Blätter berührt hatten? Er fuhr sich nachdenklich über den Nacken, um das unangenehme Kribbeln, dass sich gebildet hatte, zu vertreiben. Dann schüttelte er den Kopf und eilte weiter. Und doch ließ ihn die sich unaufhaltsam ausbreitende Nervosität nicht los.

Unwillkürlich beschleunigte sich mit jedem Schritt sein Puls. Schweißtropfen rannen über seine Schläfen und seine sonst so ruhigen Hände zitterten. Er atmete tief durch, verwirrt über diese Reaktion seines Körpers auf ein paar Blätter.

Ein Ziehen.

Er erstarrte, als etwas sein Jackett festzuhalten schien. Sein Blick war starr nach vorne gerichtet, wohl wissend, dass vermutlich wieder nur eine Pflanze für diesen Zustand verantwortlich war. Doch seine Augen wollten sich nicht auf den Zipfel seines Jacketts bewegen. Stattdessen barst sein Herz mit jedem Schlag beinahe aus seiner Brust.

Seine Finger verkrampften sich um das Armband der Pianistin. Er zwang seinen Körper, sich zu regen. Schritt für Schritt ging er vorwärts, während das Ziehen nicht nachließ.

Der Verstand des Mannes schrie ihn an; spottete über seine irrationale Furcht vor etwas, das vermutlich nicht mehr als ein abstehender Ast war. Doch auch wenn er mit aller Kraft versuchte, seinen Blick auf die Ursache des Problems zu lenken, weigerte sich sein Körper, dem Verstand zu gehorchen.

Plötzlich war das Kichern der Sterne, das Flüstern der Nacht und das Wispern des Windes unerträglich laut, viel lauter als die Gespräche der Menschen im Saal.

Seine Nackenhaare stellten sich auf, jede Regung in seinem Körper erstarrte und das sanfte Ziehen an seinem Jackett wurde fester und eindringlicher.

„Suchen Sie etwas?“

Der junge Mann zuckte zusammen und augenblicklich verstummten Sterne, Nacht und Wind.

Die Pianistin!

Er lachte nervös und strich sich über die Stirn, während er sich langsam zum Ursprung der Stimme drehte. Die Frau hatte ihre Augenbrauen besorgt zusammengezogen und streckte eine Hand nach dem Mann aus. „Ich kann Ihnen vielleicht helfen, bevor meine Mitfahrgelegenheit kommt“.

Seine Lippen waren vollkommen trocken, doch er räusperte sich und schüttelte den Kopf. „Das, was ich gesucht habe, steht genau vor mir. Sie haben das vergessen“. Mit einem unbeholfenen Lächeln ergriff er die Hand der jungen Frau und legte ihr sanft das goldene Armband um.

Die Pianistin zog überrascht die Augenbrauen hoch und strahlte dem Mann dann entgegen. „Vielen Dank! Das Armband ist mir unglaublich wichtig. Wie konnte ich es nur liegen lassen?“ Sie entzog ihre Hand seiner nicht sofort. In der Kälte der Dunkelheit suchte sie wohl ebenso nach seiner Wärme wie er nach ihrer.

Ihr unsicherer Blick traf seinen und er schenkte ihr ein Lächeln, das sie mit einem verlegenen Kichern quittierte. Dann zog sie langsam ihre Hand zurück und legte sie an den unteren Saum seines Jacketts. Röte stieg dem Mann ins Gesicht, der mit einem solchen Handeln nicht gerechnet hatte, doch die Pianistin hob den Saum nur kurz an und ließ ihn dann fallen. „Sie waren mit dem Rosenstrauch verhakt“, kam es leise von ihr. Sie strich sich eine Locke aus dem Gesicht und sah dann über die Schulter zum Parkplatz. „Ich frage mich, wo er so lange bleibt… Er meinte, er würde während meines Auftrittes nur kurz tanken und dann zurück kommen“.

Ihr Murmeln war eher an sich selbst als an den jungen Erben gerichtet, dennoch legte ihr dieser ermunternd eine Hand an den Oberarm. „Ich warte hier mit Ihnen. Und… Es beschämt mich fast, jetzt erst danach zu fragen, aber wie ist Ihr Name?“

Der dunkle Blick der Frau traf erneut seinen und ihre entzückenden Grübchen erschienen mit einem breiten Lächeln. „Hier, meine Karte.“ Aus ihrem Portemonnaie zog sie eine matte, tintenschwarze Karte hervor. Als er danach griff, schien erst gar nichts darauf zu stehen, doch unter dem fahlen Licht einer Straßenlaterne glänzte plötzlich in ebenso tintenschwarzer Schrift ein einziges Wort auf der Karte.

Pangaea.

„Ist das Ihr echter Name oder ist es ein Künstlername?“, kam es verwundert vom jungen Mann, der die Karte nach weiteren Informationen absuchte.

Bis auf den Namen hob sich allerdings nichts vom matten Schwarz der Karte ab.

„Ein… Künstlername, das trifft es eigentlich sehr gut“. Sie lächelte wieder und senkte verlegen den Blick.

„Pangaea hat einen sehr schönen Klang. Aber ist das nicht ein Urkontinent?“

Pangaea nickte und legte eine Hand an ihre Hüfte. Ihr Lächeln erhellte die Nacht mehr als die umliegenden Straßenlichter. „Danke. Und ja. Aber das hat keine tiefere Bedeutung. Ich mag den Namen einfach.“

Ein großer, dunkler Wagen fuhr auf den Parkplatz.

„Ach Gott, jetzt hätte ich mir doch gewünscht, dass er sich noch ein wenig verspätet…“, kam es nachdenklich von Pangaea.

Der junge Mann sah seine Chance und räusperte sich. „Nun, dies muss ja nicht unsere letzte Konversation gewesen sein. Wenn Sie wollen, können wir uns wieder treffen!“

„Tatsächlich?“, Pangaea lächelte und legte eine Hand an die Wange des Mannes. „Ich würde mich ja wirklich freuen, wenn ich dich wieder sehen dürfte, aber leider lässt das mein Vertrag nicht zu“.

„Ver…trag?“ Der Mann runzelte irritiert die Stirn, als Pangaea zwar weiterhin lächelte, doch die Grübchen von ihren Wangen beinahe vollkommen verschwanden.

„Ja. Der Vertrag, der vorsieht, dich hier und jetzt deinen Schöpfer treffen zu lassen.“

Er öffnete verwirrt den Mund, doch die Chance, etwas zu erwidern oder sonst irgendwie zu reagieren, sollte ihm nicht gegönnt werden.

Sein verwirrtes Zögern wurde mit unermesslichen Schmerzen bestraft, als die Faust der jungen Frau seine Nase zertrümmerte. Geschockt ließ er die Visitenkarte fallen, um sich ans Gesicht zu fassen. Sie landete lautlos auf dem Asphalt und verschmolz in ihrer Schwärze mit den umliegenden Schatten wie die Federn einer Krähe.

„Wa—“

Sie ließ ihn nicht zu Wort kommen, als ihre Grübchen wieder erschienen und sie ihn mit einer Gewalt zu Boden riss, die er ihrer schlanken Gestalt nicht zugetraut hätte.

Wieder und wieder knallte sein Gesicht gegen den asphaltierten Boden, während er sich mit aller Kraft gegen die Gewalt der Frau zu wehren versuchte.

„Du musst wissen—“, krach, „—mein Auftraggeber hat im Vertrag ein Kästchen abgehakt, das es mir erlaubt, so viel Spaß mit dir zu haben, wie ich will—“ krach, „—und wie soll ich sagen? Ich liebe rohe Gewalt einfach!“ Dasselbe perlende Lachen, das ihn im Saal vor Aufregung hatte schaudern lassen, löste in ihm nun vor Furcht dieselbe körperliche Reaktion aus. „Bei meinem Lehrmeister hätte dieses Kästchen sicher etwas anderes bedeutet. Und ich habe in deinen Augen denselben Glanz gesehen, den er hin und wieder hatte“. Krach. „Ich habe ein Händchen dafür, solche Dinge zu erkennen—“, krach, „—und es widert mich an“. Ihre Stimme war ein donnerndes Flüstern. Ein Versprechen für Qualen und Erlösung zugleich.

Blut rann aus zahlreichen Wunden im Gesicht des Mannes, Zähne und Splitter derselben lösten sich mit jedem Schlag gegen den Boden aus seinem Blut spuckenden Mund und sein Atmen brannte in seinen Lungen. Tränen rannen ihm über die Wangen. Er wollte etwas tun. Musste etwas tun. Sein Leben stand schließlich auf dem Spiel! Doch wie vorhin schon gehorchte sein Körper dem Verstand nicht. Alles was er tun konnte, war, der zärtlichen, tiefen Stimme des Todes zu lauschen.

„Außerdem finde ich es unheimlich schön—“ krach, „—dass mein Auftraggeber nicht nur verlangt hat, dass ich meinen Spaß haben soll—“ krach, „—sondern gleichzeitig auch wollte, dass du danach spurlos verschwindest“.

Pangaea drehte den jungen Mann auf den Rücken und sah ihm strahlend ins Gesicht. „Ich liebe es ja, wenn meine Kunden einen sauberen Job wollen!“

Ein gepeinigtes Gurgeln kam von dem verunstalteten Mann, der kraftlos versuchte, die Hand zu heben.

Wieso? Wieso wollte man ihn tot sehen? Wer wollte ihn tot sehen? Und warum zur Hölle lag in den Augen dieser Frau nicht der leiseste Hauch von Wahnsinn!?

Ihr klarer, konzentrierter Blick fiel auf seine schwach erhobene Hand. Keine Sekunde später bohrte sich ihr Absatz in die Handfläche, als sie mehrfach gnadenlos darauf trat.

Der Schrei des Mannes zerriss die Nacht und selbst die Grillen schienen aufzuhören, zu zirpen. Er bäumte sich unter den Schmerzen auf, schlug blind nach der Frau, doch sie trat nun auch auf die zweite Hand, bis er in dieser ebenfalls jegliches Gefühl verloren hatte.

Und dies sollte nicht alles sein.

Wieder und wieder schlug sie ihm mit der Faust ins Gesicht, wieder und wieder flammten Schmerzen in seinem gesamten Körper auf, als sie ihre anscheinend mit Metall verstärkten hohen Absätze einsetzte und mehr und mehr Löcher in seinen zuckenden Leib bohrte.

Er schrie, schrie um Hilfe, flehte um Gnade, während jeder Versuch, sich irgendwie zu wehren, augenblicklich mit grausiger Gewalt im Keim erstickt wurde.

Sein einst weißer Anzug, nun verschmutzt durch Blut und Dreck, wurde durch den groben Asphalt aufgerissen. Er wusste nicht, wie lange er verkrampft und hilflos auf dem Boden lag, als von einem Handy der leise Klang einer neuen Nachricht erscholl. Ein Funke Hoffnung stob in seiner Brust auf, erlosch allerdings sofort, als er realisierte, wessen Handy tatsächlich geläutet hatte. Die junge Frau hielt inne. Dann seufzte sie leise und räusperte sich. „Ach wie schade. Mir läuft die Zeit davon, also muss ich dies hier wohl so schnell wie möglich hinter mich bringen.“

Blut ließ seine Sicht hinter roten Schlieren verschwimmen. Gerade so erkannte er den Schlagring, den die Frau mit Lippen wie Wein sanft lächelnd anlegte. „Ich verrate dir aber zumindest noch den Namen meines Auftraggebers.“

Beinahe zärtlich fühlte sich das kalte Metall auf seinen aufgeschlagenen Wangen an, bevor sie ein weiteres Mal ausholte.

Und das Letzte, was ihm die liebliche Stimme seiner Mörderin ins Ohr flüsterte, war der Name seines Bruders.

einzel-creepypasta/lippen_wie_wein.txt · Zuletzt geändert: 13.03.2022 21:09 von lou