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Blizzard
Kapitel 7
ener Denkweise. Ohne dass es ihr bewusst wurde, fügte sich ihr Weltbild neu zusammen, kittete die zerbrochenen Teile und nahm eine neue Gestalt an.
Die Glocken riefen mit dröhnendem Klang zur Laudes. Ein neuer Tag, eine neue identische Perle, die auf die Schnur gezogen wurde. Irina schwang sich aus dem Bett. Während sie sich ankleidete, meldete sich die vertraute Übelkeit wieder. Jeden Morgen dasselbe, als versuche ihr Körper den Killer auszuspucken, mitsamt den Narben auf Haut und Seele, die er ihr hinterlassen hatte. Sie übergab sich in das winzige Waschbecken und rang sich endlich dazu durch, eine Nonne nach einem Hausmittel gegen Übelkeit zu fragen.
Die Uhr in dem kahlen Krankenzimmer des Klosters tickte monoton vor sich hin. Irina saß auf einer alten abgewetzten Liege, die Teil jeder Arztpraxis war, doch hier wirkte sie irgendwie fehl am Platze, zwischen einem reich verzierten Kreuz mit dem Erlöser und einer billigen, weißen Kunststoffuhr. Rechts führte eine Tür auf den Gang hinaus, links stand ein Regal voller Arzneimittel, die die Nonnen aus den Heilkräutern des eigenen Gartens herstellten. Der obligatorische Schreibtisch, an dem der Arzt üblicherweise die Rezepte ausstellte, fehlte, was dem Raum eine gewisse Leere verlieh. „Ich würde Sie gerne untersuchen, bevor ich Ihnen etwas aus unserer Hausapotheke mitgebe“, sagte die Nonne. Ihr Name war Aloysia, eine ältere Frau mit freundlichen Falten um die hellen Augen, rosigen Wangen und einer gemütlichen Statur, die ihr die Ausstrahlung einer liebenswerten Großmutter verlieh. „Ist das wirklich nötig?“, fragte Irina beklommen. Sie befürchtete, sich entkleiden und ihre Narben zeigen zu müssen. „Liebes, wie soll ich Sie denn gesundpflegen, wenn ich nicht weiß, was Ihnen fehlt?“, lachte Schwester Aloysia. Irina seufzte. „Sie müssen nur das Obergewand ablegen, das Untergewand dürfen Sie anbehalten“, fuhr die Nonne fort und bewaffnete sich mit einem Stethoskop, „Seit wann treten die Beschwerden auf?“ „Seit Silvester ungefähr.“ „Jeden Morgen? Übelkeit mit Erbrechen?“, die Nonne blickte Irina prüfend an. „Die Übelkeit ja. Das häufige Erbrechen erst seit etwa zwei Wochen.“ „Haben Sie noch andere Beschwerden?“ „Was meinen Sie?“ „Fühlen Sie sich müder als sonst?“ „Ich würde sagen, normal müde. Die Gartenarbeit ist körperlich anstrengend, und ich bin es nicht gewohnt, da ist man natürlich kaputt am Ende des Tages.“ „Hatten Sie in den letzten Tagen mal Heißhunger?“ „Hin und wieder mal. Ich bin wohl noch nicht ganz an das Klosteressen gewöhnt“, Irina lächelte unsicher und kämpfte um ihre Beherrschung. Die Richtung, in die sich das Gespräch entwickelte, erfüllte sie mit unaussprechlicher Angst. „Haben Sie Spannungsgefühle, oder mal ein Ziehen in der Brust gehabt?“ „Kann ich nicht sagen. Der Muskelkater durch die Arbeit ist überall gleich ausgeprägt.“ „Müssen Sie häufiger als gewöhnlich zur Toilette?“ „Also, kann sein, ich bin mir nicht sicher.“ „Wann hatten Sie das letzte Mal ihre Regelblutung?“ „Ich weiß es nicht“, stammelte Irina. „Liebes, Sie sind ja ganz blass geworden“, stellte die Nonne erschrocken fest. „Ich darf nicht schwanger sein“, flüsterte Irina mit tränenerstickter Stimme, „Alles, nur das nicht!“ Schwester Aloysia legte das Stethoskop weg, setzte sich neben das Häuflein Elend, in das sich Irina plötzlich verwandelt hatte und legte einen Arm um ihre Schultern. “Es liegt leider nicht in unserer Macht, das zu entscheiden, nur der Herr weiß, welche Prüfungen uns erwarten, und wir können nichts weiter tun, als uns Mühe zu geben“, sagte sie ruhig, „Möchtest du mir erzählen, weshalb du nicht schwanger sein willst? Wer ist der Vater?“ Sie hatte in das vertrauliche „Du“ gewechselt, um Irina ein Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln, doch es dauerte eine Weile, bis diese das Schluchzen unter Kontrolle bekam und die Kraft aufbrachte, um die Worte auszusprechen, die sie seit Wochen in sich einschloss: „Ich wurde vergewaltigt.“ Plötzlich löste sich der Knoten in ihrem Innern vollständig in Tränen auf, und Irina erzählte die ganze Geschichte. Die Nonne lauschte still und erschrocken, bevor sie Irina mit einem Schwangerschaftstest auf ihr Zimmer schickte und bis zur Abendandacht von der Arbeit befreite.
Der Schwangerschaftstest lag auf dem Waschbecken. Es war bereits einige Stunden her, dass Irina ihn gemacht hatte. Das Ergebnis war positiv. Nox Schatten reichte bis ins Kloster. Irina hatte geweint, bis ihre Augen brannten und die Nase verstopfte. Jetzt lag sie auf dem Bett und dachte über die Ungerechtigkeit des Lebens nach. Am liebsten hätte sie sich ein Messer in den Bauch gerammt, nur weg mit dem Ding, das da in ihr wuchs, dieses fleischgewordene Hohngelächter, aus einer Nacht, die sie gerne vergessen hätte. Dann kippte ihr Mitgefühl zugunsten des kleinen Wesens, das nichts von seiner Entstehung wusste und keine Schuld daran trug, dass es durch Gewalt gezeugt worden war. Irina hasste sich dafür, dass sie mit so viel Empathie und einem starken Gewissen gestraft war, sodass sie nicht einmal jetzt nur ihre eigenen Interessen verfolgen konnte. Sie hätte sterben sollen, aber es war ihr gelungen zu überleben, und jetzt gab es ein zweites Leben, das andernfalls niemals existiert hätte. Waren sie nicht natürliche Verbündete, sie und dieses neue Leben? Nein, es kam von Nox, ein Teil des Killers steckte in seinem Blut, in seinem Fleisch, vielleicht sogar in seinen Gedanken. Das Grauen jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken, während ihr Blick an der weiß getünchten Decke hing. Eine Miniausgabe des Killers wuchs in ihr heran, um sie jeden Tag daran zu erinnern, was er mit ihr angestellt hatte. Es musste weg. Es durfte nicht leben. Es war unschuldig. Irina schloss die Augen und weinte erneut. Während der vielen Stunden, die sie in der Bibliothek verbracht hatte, drängte sich immer wieder eine bestimmte Frage in den Vordergrund: Hätte sie die Kraft und den Mut, um Nox zu töten, wenn sie ihm wieder begegnete? Wäre sie in der Lage ihr eigenes Leben auf Kosten eines anderen zu schützen? Ihr Inneres antwortete jedes Mal mit einer Mischung aus Trotz, Überlebenswillen und gerechtem Zorn. Doch jetzt stand sie vor der Entscheidung, ein Leben zu beenden, das noch gar nicht richtig angefangen hatte. Irina zweifelte an all ihren Überzeugungen, fühlte sich schwach und unfähig ein Urteil zu sprechen. Dröhnend verkündeten die Glocken, dass es Zeit für die Vesper war und rissen Irina aus der Verzweiflung. Schwerfällig machte sie sich auf den Weg. Das Gebet fiel ihr nun besonders schwer. Wozu beten, wenn es keinen Unterschied machte? Vielleicht gab es tatsächlich niemanden, der sich um die Belange der Menschen scherte. Vielleicht liefen alle Gebete ins Leere, ungehört, außer von jenen, die sie sprachen. Wozu an Gott glauben, wenn es keinen Unterschied machte? Hatte Irina anfangs mit Gott gebrochen, weil sie ihm nicht mehr vertrauen konnte, so zweifelte sie nun entschieden an seiner Existenz. Niemand war verantwortlich für das Unglück, das ihr widerfahren war, weil es niemanden gab, der sich für sie interessierte. Leben oder Sterben, das waren zwei Seiten derselben Medaille, die sich zufällig in die eine oder andere Richtung drehte, unabhängig, ob die Gefühle der Menschen daran hingen oder sie der Drehung mit Gleichgültigkeit begegneten. Irina hatte ihre eigene Medaille gezwungen, in die richtige Richtung zu schwingen, und jetzt musste sie mit den unwahrscheinlichen Konsequenzen leben. Die Chance auf eine Schwangerschaft hatte der Killer schon im Vorfeld ausgeschlossen, weil ihr Überleben nicht geplant gewesen war. Jetzt quälte sie der Gedanke, dieses Kind könne mehr sein als nur das Produkt einer Vergewaltigung, und brannte Löcher in Irinas Herz. Zum Abendessen erhielt sie eine extra Portion Gemüse. Ihr fragender Blick wurde mit einem warmen Lächeln der Nonne beantwortet, die heute für das Essen zuständig war. Irina glaubte sich an den Namen Benedicta zu erinnern. Offensichtlich hatte Schwester Aloysia beschlossen, dem Kind einen guten Start ins Leben zu ermöglichen. Über Irinas Kopf hinweg. Was erwartete sie auch von einem Orden, der sich „Missionsschwestern des heiligen Kindes“ nannte? Sie hätte damit rechnen müssen. Mit gemischten Gefühlen kaute sie die rohen Paprika- und Möhrenstreifen. Etwas Gutes für das Kind, ein sonderbarer Gedanke, wo sie sich noch nicht einmal sicher war, ob sie es annehmen konnte, oder wollte, dieses Wesen, das in ihr wuchs. Nach dem Essen fing Schwester Aloysia sie ab und bedeutete ihr ernst und schweigend zu folgen. Verwirrt und mit einer schlechten Vorahnung ließ sie sich in die dritte Etage führen, ein Bereich, den Irina bisher noch nicht kennengelernt hatte. Moderne Seminarräume warteten hier auf Lesungen, Vorträge und Bibelstunden. Schwester Aloysia winkte sie in einen mittelgroßen Raum, der von leeren Tischen und Stühlen beherrscht wurde, und schaltete einen Fernseher ein. Eine Nachrichtensendung, offenbar eine Dauersendung, die schon den ganzen Tag lief, wurde eingeblendet. Das Bild zeigte ein großes, mehrstöckiges Gebäude, das in lodernden Flammen stand. Eine weibliche Sprecherstimme hob gerade zu einem neuerlichen Berichtintervall an: „Die Evakuierung des Gebäudes ist immer noch nicht abgeschlossen, da die Feuerwehr nur über die Fenster einen Zugang zu den höheren Etagen findet. Die eingestürzten und instabilen Treppenhäuser verhindern weiterhin das Vorankommen der Einsatzkräfte. Es ist nicht sicher, wie viele Patienten und Pflegekräfte noch in dem brennenden Gebäude eingesperrt sind, aber die Feuerwehr arbeitet mit dem Mut der Verzweiflung an einer Lösung. Die Zeit wird langsam knapp, aus vielen Fenstern schlagen bereits Flammen, die Gefahr durch Hitze und tödlichen Rauch ist immens. Trotz verzweifelter Löschbemühungen ist der Brand bislang noch nicht unter Kontrolle. Aktuell geht man von 87 Toten aus, die in den giftigen Dämpfen ums Leben kamen, doch die Zahl steigt weiter an. Die Polizei hat eine Notfall-Hotline für besorgte Angehörige eingerichtet. Wir wechseln zu unserem Korrespondenten vor Ort: Wie ist die Lage?“ Ein Mann mittleren Alters wurde eingeblendet, schütteres Haar, tiefe Falten und Ringe um die müden Augen beherrschten seine Erscheinung, er trug den typischen Ausdruck von Betroffenheit und Mitgefühl zur Schau, die jeder Katastrophen-Reporter zeigte. „Hier vor Ort verschärft sich die Lage zusehends. Der Katastrophenalarm wurde ausgerufen, man kann die Anspannung der Einsatzkräfte regelrecht mit Händen greifen. Wie jetzt bekannt wurde, müssen in allen Treppenhäusern tragende Wände eingestürzt sein, sodass die Trümmerteile die Treppenschächte vollständig blockieren. Dadurch ist die Evakuierung von vielen Patienten, die in ihrer Mobilität eingeschränkt oder sogar völlig ans Bett gefesselt sind, so gut wie unmöglich. Das alles ist kein tragisches Unglück mehr, hier hat jemand nachgeholfen. Die Polizei bestätigte vor wenigen Minuten den Verdacht, dass es sich um einen gezielten Anschlag handelt. Noch hat sich keine Terrororganisation zu der Tat bekannt, aber wir dürfen wohl recht bald mit einem Bekennerschreiben der Täter rechnen. Für die nächsten Stunden hat sich der Innenminister angekündigt. Er will sich persönlich vor Ort ein Bild machen und mit allen Mitteln die Einsatzkräfte unterstützen. Die Menschen dieser Stadt sind schockiert und bestürzt. Damit gebe ich zurück ins Studio.“ Die weibliche Sprecherin ergriff wieder das Wort, aber Irina hörte sie nicht mehr. Eine Luftaufnahme des Gebäudes wurde eingeblendet, und sie begriff endlich, dass dies das Krankenhaus war, in dem sie gearbeitet hatte. Eine eisige Klaue griff nach ihrem Herzen. So viele Menschen. So viele Hilflose, Alte, Verletzte, Kinder und Erwachsene, Ärzte, Patienten und Pflegekräfte. Menschen, die sie gekannt und gemocht hatte, wie die junge Krankenschwester der Kinderklinik, die grade erst ihre Examensprüfung bestanden hatte, oder der Stationsleiter der Geriatrie, der immer so herzlich lachte. Anita, hoffentlich nicht Anita. „Bitte, schalten Sie das aus.“ Irinas Stimme zitterte. Der Bildschirm wurde dunkel und Stille legte sich über die leeren Tische und Stühle des Seminarraumes, wie eine erdrückende Last. Schwester Aloysia blickte Irina ernst an und fragte vorsichtig: „Das war sein Werk, liege ich richtig?“ Irina schwieg, warf der Nonne aber einen verlorenen, verzweifelten Blick zu. „Er will Sie quälen, das wissen Sie.“ Sie nickte, unfähig zu antworten. Den ganzen Tag hatte sie geweint, jetzt wollten die Tränen nicht mehr fließen, stattdessen schnürte ihr ein Kloß den Hals zusammen, sodass sie keine Worte fand. „Nachdem Sie mir heute Vormittag ihre Geschichte erzählt haben, musste ich einfach etwas nachforschen. Es klang so unglaublich, dass ich mich selbst davon überzeugen musste. Dieser Mann hat sich aufs Äußerste an der Menschheit versündigt. Ich hätte mir niemals träumen lassen, dass ein einzelner Mensch zu solchen Taten imstande wäre“, sie brach ab, als suchte sie nach den richtigen Worten für das, was sie noch zu sagen hatte: „Sehen Sie, der Vikar besaß noch die Zeitungen der letzten Wochen, und ich fand einen Artikel, der offenbar in Verbindung mit der Geschichte steht, die Sie mir über das Grab ihres Verlobten berichteten.“ Jede Farbe wich aus Irinas Gesicht. Sie wollte etwas sagen, musste aber erst den Druck in ihrer Kehle weghusten. „Da ist noch mehr?“ „Leider“, die Nonne druckste ein wenig herum, bevor sie sich fasste und langsam weiter sprach: „Es gab einen Mord an einer Frau, die wie Sie als Seelsorgerin in dem Krankenhaus beschäftigt war, das gerade in Flammen steht. Sie wurde vor dem Tod grausam gefoltert, der Mörder hinterließ keine Spuren, aber die Polizei hat Parallelen zu dem Fall der Grabschändung festgestellt. Die Handschrift des Mörders sei identisch, sagen sie. Liebes, die Beamten suchen nach Ihnen, sie machen sich Sorgen um Ihre Sicherheit. Wussten Sie, dass es auch in Ihrer Wohnung gebrannt hat? Was wollen Sie jetzt tun?“ „Ich kann nicht zur Polizei gehen. Er würde mich finden, und dann waren alle Opfer umsonst.“ Irina hörte ihre Stimme sprechen, aber sie begriff die eigenen Worte erst im Nachhinein. Warum fehlten ihr die Tränen, jetzt, da Nox ihr auch noch Anita genommen hatte? Die einzige Freundin, die ihr geblieben war. Irina hatte sich doch bewusst von ihr ferngehalten, damit sie nicht in Gefahr geriet. Wie naiv. Jetzt gab es nur noch Walter, Karstens Vater. Plötzlich war sie sehr froh darüber, dass ihre eigenen Eltern seit Jahren verstorben waren und sie keine Geschwister hatte. Der Killer lief Amok und tötete alles und jeden, der jemals Kontakt mit ihr gepflegt hatte. Ob Walter überhaupt noch lebte? Oder hatte sie nur noch nicht von seinem Tod erfahren? Irina zuckte erschrocken zusammen. Wann hatte sie angefangen, so gleichgültig und kaltblütig über das Leben ihrer Mitmenschen nachzudenken? Nox vergiftete ihre Gedanken. So viele Unschuldige, so viel Tod, so viel Leid, und sie selbst dachte schon darüber nach, dieser langen Liste noch ein weiteres, namenloses Leben hinzuzufügen. Ein kalter Schauer jagte ihr den Rücken hinab. „Sie fühlen sich doch nicht etwa verantwortlich für das, was dieses Monster tut?“ Schwester Aloysia wirkte aufrichtig besorgt. „Ich weiß es nicht“, gestand Irina, „Ich weiß nicht mehr, was ich fühle. Er ist wie ein eisiger Sturm. Gleichgültig, wie viele Jacken ich anziehe, die Kälte dringt mir bis in die Knochen und lässt mich frieren“, gestand sie mit zitternder Stimme. Nox würde auch das Kind töten, wenn er davon erfuhr. Schon allein um sie zu quälen. Ihre Hände wanderten unbewusst zur Körpermitte und legten sich schützend über den Unterleib. Als es ihr auffiel, zuckte sie unwillkürlich zusammen, und sie straffte die Schultern. „Ich werde mit der Mutter Oberin sprechen. Sie brauchen mehr Beistand, als wir Ihnen mit unseren bescheidenen Mitteln bieten können“, sagte die Nonne. „Sie wollen mich wegschicken?“ Irina wurde noch eine Spur blasser. „Natürlich nicht!“, die Nonne wirkte beleidigt, „Wir unterhalten in der ganzen Welt Korrespondenz mit anderen Orden, auch konfessionsübergreifend. Ich bin sicher, dass wir einen angemessenen Schutz für Sie organisieren können.“ „Woraus soll denn dieser Schutz bestehen?“, wollte Irina wissen. Bitterkeit schwang in ihrer Stimme mit. „Das wird der Herr uns schon rechtzeitig offenbaren. Kommen Sie, gehen wir eine Runde spazieren. Ich bin sicher, dass es viele Fragen gibt, die Sie quälen. Der Mörder ist schließlich nicht ihre einzige Sorge. Sie erwarten ein Kind, unter den denkbar ungünstigsten Umständen, aber das traf auch auf die heilige Mutter Maria zu“, Schwester Aloysia schenkte Irina ein großmütterliches Lächeln und führte sie nach draußen, in einen lauen Abend, der von Vogelgezwitscher und grünen Knospen beherrscht wurde. Irina fühlte sich unwirklich, neben der Nonne durch den gepflegten Ziergarten zu laufen, der kurz vor dem Frühlingserwachen stand, während ihre Gedanken von Tod und Vernichtung beherrscht wurden. Anfangs lauschte sie noch halbherzig dem gut gemeinten Vortrag, zwang sich an den passenden Stellen zu lächeln, oder gab eine knappe Antwort, doch schon bald glitten die vielen von Gott durchwirkten Worte an ihr ab und sie hüllte sich in Schweigen. Von Gott war keine Hilfe zu erwarten, während der Killer eine blutige Schneise durch ihre Vergangenheit zog und ihre Zukunft von einem ungewollten Kind beherrscht wurde, für das dieses Aas gleichsam verantwortlich war. Wie viel schlimmer konnte es jetzt noch kommen? Wie oft hatte sie sich diese Frage in den letzten Monaten schon gestellt, nur, um wenig später von einer weitaus schlimmeren Misere heimgesucht zu werden? Irina fühlte sich einsam und hilflos. Wieder ging ihr der Gedanke durch den Kopf, dass Nox auch das Kind töten würde, wenn er sie fand. Vielleicht waren sie doch so etwas wie Verbündete, wenn der Killer ihnen beiden nach dem Leben trachtete. Das Kind trug keine Schuld daran, dass Irina es als lebende Erinnerung an unaussprechliche Qualen betrachtete.
Später, nach der Vigil, lag sie wach im Bett und starrte die getünchte Decke an. Sie hatte geglaubt, dass der Tod ihrer besten und einzigen Freundin mehr in ihr hervorrufen würde als ein leises Bedauern. Sie hatte geglaubt, der Verlust würde ein Loch in ihr Herz reißen, aber ihr Inneres war bereits so zerrissen und durchlöchert, dass ein weiterer Schaden nicht mehr nennenswert ins Gewicht fiel. Irina schämte sich dafür. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab. Die Schwangerschaft drängte sich in ihre Aufmerksamkeit. Dieses Leben, das sich gegen jede Wahrscheinlichkeit durchsetzen wollte. Es war genug Blut geflossen, um ganze Landstriche darin zu ertränken, und der Killer watete unbeeindruckt durch knöcheltiefe Schuld. Irina wollte sich nicht auf sein Niveau herabbegeben, diese Vorstellung widerte sie mehr als alles andere an. Sie fühlte sich nicht in der Lage, ein unschuldiges Leben auszulöschen, gleichgültig, welche Gefühle sie ihm entgegenbrachte. Sie konnte sich aber durchaus vorstellen, Nox‘ Leben zu beenden, wenn die Chancen zu ihren Gunsten standen und sie mutig genug wäre, aber der Killer hatte es auch verdammt noch mal verdient! Das Kind sollte eine Chance bekommen, und wenn Irina ihm nicht mit der Liebe einer Mutter in die Augen sehen konnte, würde es andere Eltern geben, die es an ihrer Stelle konnten. Was waren schon neun lächerliche Monate Schwangerschaft, verglichen mit allem, was Nox ihr angetan hatte? Irina legte die Hände auf ihren Unterleib, dieses Mal bewusst. „Ich weiß, du hörst mich noch nicht, aber sicher bald. Weißt du, ich kann noch nicht sagen, ob ich dich lieb haben kann. Aber vielleicht können wir erst einmal Verbündete sein?“, sie fühlte sich ein wenig albern bei diesen Worten, und das Folgende kam ihr nur schwer über die Lippen, „Der Mann, der dein Vater ist, war sehr gemein zu mir, und er würde auch jederzeit gemein zu dir sein. Also, ich habe beschlossen, dass wir zusammenhalten müssen, denn wir haben einen gemeinsamen Feind und das macht uns dann doch zu Verbündeten, oder? Ich will für uns beide stark sein, wenigstens bis du zur Welt kommst. Danach schauen wir, ob es mit uns funktioniert, okay?“