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Pangaea

Sie kannte jede einzelne Gestalt, die sich inmitten der Nacht hierher verirrte, kannte jede Stimme, jedes Lachen und jede Bestellung in- und auswendig. Oftmals waren es Männer, grobe Kerle, deren Hände genug Kraft hatten, um Schädel wie leere Bierdosen zu zerquetschen. Hin und wieder kamen jene, deren Statur nicht auf ein solches brutales Verhalten hinwies, sondern viel eher auf die Verwendung von Waffen. Und sie alle hatten mehr Dreck am Stecken als ein altes Paar Stiefel nach einer Moorwanderung bei Regen.

Der unterschwellige Geruch von Blut, der an zahlreichen Besuchern dieser Bar hing, konnte nur durch den des Alkohols übertüncht werden, der hier literweise über den Tresen gereicht wurde. Doch ebenjener Alkohol war auch der Grund, warum die Sprachfetzen in der stark besuchten Bar nicht aus Smalltalk bestanden, sondern hier und da auch hörbar wurde, wo seit Monaten verschollene Menschen waren, welche Banken innerhalb der nächsten Wochen Ziele von Raubzügen werden sollten oder welcher Politiker die nächste Abschussscheibe war.

Die junge Bardame lenkte ihre Konzentration auf den glatten Holztresen, den sie wegen eines unachtsamen Kunden wischen musste, und schüttelte den Kopf. Jeden Abend, den sie hier arbeitete, überraschte es sie aufs Neue, wie locker diese Männer und Frauen mit ihren Informationen umgingen. Es war zwar so gut wie unmöglich, dass hier ein Fremder hineinkäme, der die Informationen an Dritte weiterleiten wollte und dann auch wieder lebendig herauskam, dennoch schien es für die Bardame bessere Orte zu geben, um solche Gespräche zu führen.

„Verzeihung?“ Eine sanfte, tiefe Frauenstimme riss die Bardame aus ihren Grübeleien, ließ sie von ihrer Arbeit aufschauen. Vor ihr saß eine Frau, vermutlich Ende Zwanzig. Ihr freundliches Lächeln wurde von Grübchen verstärkt, schwarzbraune Locken fielen ihr ungezähmt über die blanken Schultern. Sie trug ein schwarzes, langes Kleid und ihre Lippen waren dunkelrot gefärbt. Unwillkürlich musste die Bardame an einen Vampir denken, doch dafür war ihr Hautton zu warm.

„‘n Abend. Was darf’s sein?“

Die Frau zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen und tippte sich ans Kinn. „Ich schätze, ein wenig Rotwein wäre nicht schlecht“.  

„Was für einen denn?“

Die junge Frau musterte die Auswahl und deutete dann schweigend auf einen der teureren. Ihre dunkelrot lackierten, langen Fingernägel glänzten im gedämpften Licht der Bar wie Rubine und bei der Bewegung klimperten drei feine, goldene Armbänder leise vor sich hin.

Die Bardame nickte nur und füllte ihr schweigend ein Glas ein. Sie wusste, dass dieses elegante Aussehen zumeist trügerisch war. Doch diese Frau hatte sie noch nie hier gesehen, also könnte es vielleicht sein, dass es sich bei ihr um einen Maulwurf handelte.

Sollte dies jedoch der Fall sein, würde sich das spätestens dann regeln, wenn sie versuchte, diese Bar zu verlassen. Die regulären Besucher hier rochen Frischfleisch wie Bluthunde ihre Beute. Vor allem, wenn dieses Frischfleisch ein schulterfreies Kleid trug.

„Vielen Dank“.

Die Bardame nickte nur und bediente einige andere Kunden, während die fremde Frau vorsichtig am Glas nippte. Ihre Lippen waren beinahe so dunkel wie die Farbe des Weines, und im Seitenprofil erkannte die Bardame, dass ihre Nase einen Höcker hatte. Ob dieser aufgrund eines Nasenbruches entstanden oder angeboren war, konnte sie allerdings nicht einordnen.

Die Frau saß aufrecht, mit erhobenen Kinn. Ihre runden Augen waren genussvoll geschlossen, als sie den Wein trank, und mit ihrem freien Arm stützte sie sich auf den Tresen.

„Ich weiß nicht, warum, aber manchmal brauche ich einfach den Lärm einer Bar, um meinen Wein zu genießen.“ Wieder fiel der Bardame auf, wie sanft die Stimme dieser Besucherin war. Wie unglaublich ruhig und gelassen. So ruhig sprachen nur Auftragsmörder von höchstem Niveau oder andere hohe Tiere. Doch diese verirrten sich nur selten hierher.

„Naja, es hat etwas Entspannendes, wenn man Hintergrundgeräusche hat, schätze ich“.

Die Frau nickte und stützte ihr Kinn auf ihre freie Hand, während sie den Blick ein wenig schweifen ließ. Im gedämpften Licht erkannte die Bardame zahlreiche Sommersprossen, die der Frau im Gesicht tanzten.

„Entspannend, hm? Ich weiß ja nicht so genau. Ich bevorzuge eigentlich absolute Stille. Aber etwas an diesem sinnlosen Geschwafel…“, ihre dunkelbraunen, fast schwarzen Augen begannen zu strahlen, „…etwas daran ist wahnsinnig spannend. Man erfährt so viele Sachen, von denen man nicht weiß, ob sie wahr sind oder nicht. Man hört so viele bekannte und unbekannte Stimmen, man verschmilzt in der Menge und es interessiert keinen, wer du bist oder warum du hier bist.“ Sie kicherte amüsiert und nahm einen weiteren Schluck. „Du wirst das nicht nachvollziehen können. Immerhin ist dieser Lärm dein täglich Brot. Aber für mich ist das fast schon ein Highlight“. Nachdenklich hob sie das Glas, schwenkte die dunkelrote Flüssigkeit und betrachtete neugierig lächelnd den Wein. „Ich habe beim Reinkommen zum Beispiel gehört, dass jemand seine Frau umgebracht hat, weil sie ihn verlassen wollte, nachdem er sie betrogen und sie das herausgefunden hat. Furchtbare Sache. Wäre ich die Frau gewesen, hätte ich ihm entweder Bittermandel ins Bier gekippt oder ihn mit demselben Baseballschläger zu Tode geprügelt, den er für sie verwendet hat.“ Sie seufzte verträumt und schloss wieder die Augen.

Ein weiterer Kunde näherte sich, ließ die Faust auf den Tresen krachen und rülpste. „Rück mal ‘nen Vodkashot rüber!“ Die Bardame schob einen Shot über den Tresen und hielt dann inne. Wer war diese Frau? Eine Auftragsmörderin? Eine krankhafte Psychopathin? Nein. Sie war vollkommen bei Sinnen. Ihr Weinglas war fast leer. Ihre Hände waren so ruhig und still wie die eines Künstlers. Da war nichts Labiles, wie sie es bei so vielen anderen ihrer Besucher bereits kennengelernt hatte. Selbst der Wein im Glas schien stillzustehen. Allerdings war ihr Blick nun kalt und starr auf den Mann gerichtet, der sich gerade einen weiteren Shot bestellte. Sie lächelte nach wie vor, doch ihre Grübchen waren verschwunden. Sie zog eine Augenbraue kaum merklich hoch und setzte das Weinglas lautlos ab.

Der Mann, ein großer, grober Typ, der zu diesen Menschen gehörte, die mehr Grunzgeräusche als wirkliche Worte von sich gaben, bemerkte den Blick der Frau nicht. Seine Aufmerksamkeit galt völlig den Getränken, die er sich runterkippte.

Die Frau sah zur Bardame. Ihre Blicke kreuzten sich und die Grübchen der Frau erschienen wieder. Sie zog aus ihrem Portemonnaie einige Scheine, die eindeutig über dem Wert des Getränks lagen, und platzierte diese auf den Tresen, bevor sie aufstand. „Stimmt so“. Die Bardame nickte, und als die Frau lächelnd ein leeres Shot-Glas in die Hand nahm und einen auffordernden Blick zur Bardame warf, entfernte sie sich vom Mann und kümmerte sich um den nächsten Kunden.

Ein lauter Schrei erklang.

„Diese Schlampe! Diese verdammte Schlampe! Mein Auge! Verdammte Scheiße, mein Auge!“ Der Mann warf wütend die Hände in die Höhe, drehte sich blind vor Wut im Kreis, während er nach der schmalen Gestalt der Frau suchte.

Das Shot-Glas steckte tief in seiner linken Augenhöhle, Blut lief wie in Strömen aus der Wunde und sein Augapfel lag lose, nur am Nerv hängend, im Glas.

Die Bardame verzog den Mund, während Tumult laut wurde und plötzlich ein Glas am Tresen zerbrochen wurde.

Das Weinglas der Frau lag in Scherben, doch der Stiel war intakt und lag in der Hand ebenjener. Sie sah mit demselben ruhigen, sanften Lächeln zur Bardame, das sie auch schon getragen hatte, als sie das Gespräch führten, und ihre Grübchen vertieften sich noch ein wenig. „Wie soll ich sagen? Ich liebe rohe Gewalt einfach!“ Sie kicherte, holte aus und rammte den Stiel in den Hals des Mannes. Dieser griff sich gurgelnd an die blutsprudelnde Wunde und stolperte nach hinten, bevor er sterbend zu Boden sank. Immer mehr und mehr Leute standen auf, suchten nach der Schuldigen, prügelten blind aufeinander ein. Doch die Suche sollte keine Früchte tragen. Die Bardame konnte gerade noch erkennen, wie ein wilder, schwarzbrauner Lockenkopf durch die Tür verschwand.

Während immer mehr Männer und Frauen zu Boden fielen, machte sich die Bardame daran, die Scherben des Weinglases wegzuräumen und den restlichen Wein fortzuwischen. Hierbei fiel ihr Blick auf den Stapel Scheine, den die Frau ihr hingelegt hatte. Als sie diesen an sich nahm und das Geld in die Kasse einsortierte, fiel eine kleine, schwarze Visitenkarte auf den Tresen, auf dem in eleganter Schrift „Pangaea“ stand.

einzel-creepypasta/pangaea.txt · Zuletzt geändert: 13.03.2022 21:04 von lou