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Alice - Zweiter Akt

Vorheriger Teil

Die unbewegte Luft des leeren Bahnhofs fühlt sich trocken in den Lungen der jungen Frau an. Auch wenn der Sommer erbarmungslose Hitze mit sich bringt, fröstelt sie in der kühlen Brise, die neben dem schwindenden Sonnenlicht den sich annähernden Abend ankündigt.

Sie schließt die Augen und zupft an ihrem dünnen Oberteil. Vorhin ist dieses luftige Kleidungsstück noch von Nutzen gewesen, doch nun wünscht sie sich nichts sehnlicher als eine leichte Weste oder einen heißen Kaffee.

Mit nach wie vor geschlossenen Augen schlingt sie ihre Arme um ihren Oberkörper und atmet tief durch. Wann wohl endlich ihr Zug kommen würde? Er hat sich bereits um einige Minuten verspätet und die Anzeige gibt keine weiteren Informationen preis. Sie will einfach nur nach hause, zu ihren Eltern, ihrem Hund, ihrem Bett. Hauptsache sie muss nicht mehr auf die Bahn warten. Sie lächelt bei dem Gedanken daran, wie ihr Hund sie überglücklich begrüßen würde, wie der Geruch des Abendessens sie in die Küche zu ihren Eltern locken, und sie, wie immer, liebevoll empfangen und über ihren Tag ausgefragt werden würde. Sie kann es kaum erwarten, die Wärme ihrer Familie zu spüren.

„Entschuldigung?“ Die Stimme eines jungen Mädchens reißt die Frau aus ihren Gedanken. Sie öffnet wieder ihre Augen und schaut hinab zur Besitzerin der Stimme. Das Mädchen, dessen Blick auf den Boden geheftet ist, kann kaum älter als zwölf oder dreizehn sein, sie ist zierlich, dünn und allem voran schmutzig. Gut riechen tut sie zudem auch nicht. Der Geruch, der von ihr ausgeht, ähnelt vergammeltem Fleisch, abgestandenem Blut und Schlachtabfällen. Die Frau rümpft, vom Gestank überrumpelt, kurz die Nase, reißt sich dann aber zusammen und setzt ein hilfsbereites Lächeln auf. Es muss schließlich einen Grund geben, warum sich nicht um die Körperhygiene des Kindes gekümmert wird. Und spätestens wenn der Zug da ist, kann sie dem Geruch entfliehen. „Ja? Was gibt es denn? Soll ich jemanden für dich anrufen?“ Sie versucht, nett zu klingen, versucht, sich nicht vom Geruch nach verlassenem Schlachthaus ablenken zu lassen, doch in ihrer Stimme schwingt ein Hauch Ungeduld mit. Das Mädchen hebt einen Arm und deutet mit dem Finger auf einen Punkt hinter die junge Frau. „Kannst du bitte lesen, was auf dem Schild da steht? Meine Augen sind zu schlecht.“ Erst jetzt bemerkt diese die dunkelbraun und rot befleckten Verbände, die unordentlich um die Arme und Beine des Mädchens geschlungen sind. Selbst am Kopf trägt sie einen Verband.

Beschämte Röte breitet sich auf ihrem Gesicht aus. Natürlich stinkt dieses Kind, wenn es solche Wunden mit sich schleppt und anscheinend niemanden hat, der sich um es kümmert. Was ist, wenn ihre Eltern sie so zugerichtet haben? Eine Welle Besorgnis schwappt über den Geist der Frau. Sie geht bekümmert in die Hocke und legt ihre Hände auf die Oberarme des Kindes. „Geht es dir gut? Soll ich die Polizei für dich rufen?“ Ihr Blick wandert über den Bahnsteig und die Straße. Niemand ist da oder scheint dem Mädchen gefolgt zu sein. Kurz sieht sie auf den Hoodie des Kindes. In schwarzen Großbuchstaben steht der Name ALICE darauf. „Ist dein Name Alice?“ Alice nickt, ihren Blick nach wie vor gesenkt.

„Soll ich die Polizei rufen? Bist du in Gefahr?“

„Bitte sag mir nur, was auf dem Schild steht.“ Die Stimme des Mädchens ist nach wie vor leise, beinahe piepsig. Die Frau atmet leise durch. Wenn die Bahn sich noch etwas mehr verspätet, dann ruft sie die Polizei, egal ob Alice es will oder nicht. Was sie hier vor sich sieht, ist ein absoluter Fall für das Jugendamt.

Bevor sie anruft, will sie aber noch dem Wunsch des Kindes nachgehen. Sie schenkt Alice also noch ein leichtes Lächeln, dreht sich, nach wie vor auf Höhe des Kindes, um und beginnt, von der Anzeigetafel abzulesen. „Der nächste Zug nach-“ Ein Schrei bricht aus ihrem Mund, als brennende Schmerzen von ihrem Nacken ausgehend durch ihren gesamten Körper pulsieren.

Sie taumelt vorwärts, stützt sich mit den Händen ab und versucht, aufzustehen, als derselbe Schmerz ein weiteres Mal ihren Körper peinigt. Diesmal reißt der Schmerz – Eine Klinge? – ihren gesamten Rücken auf. Ein weiterer, gleichsam überrascht, wie schmerzerfüllter Schrei entweicht ihren Lippen. Sie rappelt sich auf, dreht sich um und tritt nach dem Kind, das ein blutbesudeltes Fleischermesser in den Händen hält. Es starrt mit weit aufgerissenen Augen zur Frau. Ein schwarzes und ein rotes Auge. Schmerzen pulsieren nach wie vor durch den gesamten Körper der Frau. Sie keucht leise, holt mit dem Bein aus und tritt nach dem kleinen Biest. Alice wird einige Schritte nach hinten befördert. Sie strauchelt und fällt hart auf den Asphalt, ein leises „umpf!“ ist alles, was sie von sich gibt. „Bist du bescheuert!?“, schreit die Frau, taumelt zur Mädchen und tritt ihr auf das Handgelenk, mit dem sie das Messer hält. Alice wimmert auf und lockert ihren Griff um die Waffe. Die Frau, blind vor Wut und vor Schmerz, tritt auch dieses Beiseite und holt ein weiteres Mal mit dem Bein aus. Kurz wird ihr schwindelig, ihre Sicht verschwimmt und sie muss ihr Gleichgewicht wiederfinden.

Blut quillt unablässig aus ihren Wunden, verklebt ihre Kleidung, ihren Körper. Es tropft auf den Asphalt, sammelt sich in einer kleinen Pfütze und zeigt der Frau somit umso deutlicher, wie fatal die Messerattacke gewesen ist. Vor allem der Stich in den Nacken ist es, der das starke Schwindelgefühl auslöst, das sie auf die Knie fallen lässt. Die kleine Göre nimmt sich diesen Moment als Chance, greift nach einem locker gebrochenen Stück Asphalt und schmettert dieses gegen die Schläfe der verwundeten Frau. Ihre Ohren surren, etwas heißes, metallisch schmeckendes fließt zwischen ihren Lippen hervor. Sie kann sich nicht rühren, kann nur den Schmerz fühlen, der ihren gesamten Körper lähmt, während das Stück Asphalt wieder und wieder gegen ihren Kopf geschmettert wird.

Vor ihrem inneren Auge sieht sie ein letztes Mal, wie ihr Hund sie an der Haustür anspringt, sie hört ein letztes Mal, wie ihre Eltern nach ihr rufen und sie fragen, wie ihr Tag war. Sie spürt ein letztes Mal ihre Umarmungen, riecht und schmeckt ein letztes Mal das wundervolle Essen ihres Vaters.

Das letzte, das ihre Augen unter roten Schlieren registrieren, ist ein immer näher kommendes Licht.

Alice rammt den Schädel der Frau ein, bis entferntes Läuten die sich nähernde Ankunft eines Zuges ankündigt. Sie flucht, steht mit schmerzenden Muskeln und Knochen auf und greift nach ihrem Messer. Sie hat bei weitem nicht genug Zeit um sich eines ihrer Organe zu schnappen, doch wenn sie schnell genug ist, wird sie noch ihre Lebensenergie greifen können. Sie rammt das Messer also schnaufend in den nur noch schwach zuckenden Torso und reißt die Bauchhöhle auf. Wie ein wildgewordenes Tier wühlt sie in den Organen herum, schneidet sie grob heraus und wirft sie beiseite. Jegliche Rationalität hat sich aus ihrem Geist verabschiedet. Sie will die Lebensenergie schon nicht mehr, viel eher schreit ihr Körper danach, nach dem einzigen Etwas, das dieser Sucht einen kurzen Stopp geben würde. Glitschig und rot fummeln ihre Finger an ihrem Einmachglas, um den Deckel zu öffnen.

Hinter ihr kreischt der anfahrende Zug, die entfernten Lichter werfen flache, unglaublich lange Schatten. Der Deckel öffnet sich – endlich – und die milchig weiß erscheinende Lebensenergie wird in das Gefäß gesogen. Ein breites, zittriges Lächeln breitet sich auf dem Gesicht des Kindes aus. Sie steht auf, presst das Einmachglas gegen ihre Brust und rennt los. Benebelt von der Ekstase, die die eingesammelte Lebensenergie mit sich bringt, ignoriert sie vollkommen das Blut, das hinter ihr her tropft. Sie ignoriert ihren schmerzenden Körper, ihren pochenden Kopf und ihre brennenden, aufgeriebenen Hände. Hinter ihr werden überraschte und panische Schreie laut. Ihr Lächeln wird ein Stück breiter.

Als ihre Beine keine Kraft mehr zum Rennen haben, geht sie nur noch durch die sternenklare Nacht. Ihr gesamter Körper fühlt sich klebrig an, ihr Seelenglas ist schmutziger als sonst und Hunger macht sich durch lautes Magenknurren hörbar. Alice huscht durch pechschwarze Gassen, geht einen Weg entlang, den sie auch im Schlaf zu folgen weiß. Die milchig neblige Wolke in ihrem Glas hatte sie längst verschlungen. Es sättigt sie nicht, keineswegs, doch es erfüllt ihren Körper und Geist mit Energie, mit Kraft und mit dem Gefühl, unsterblich zu sein. Zumindest für einen kurzen Moment.

Nach einigen Minuten erreicht sie mit nach wie vor schmerzenden Knochen ihren Zielort. Ein heruntergekommenes, unscheinbares Gebäude. Sie schleicht sich durch die Hintertür hinein, betritt somit Vergos Studio. Seine laute, euphorische Stimme hallt bis zu ihr, während er zufrieden eine seiner Kochshow Folgen anleitet. Der Geruch von gebratenem Fleisch steigt Alice in die Nase, benebelt sie beinahe so sehr wie das Einnehmen von Lebensenergie. Sie folgt der Stimme Vergos, folgt dem köstlichen Geruch, bis sie zum Aufnahmeort gelangt. Das junge Mädchen bleibt verborgen vor der Kamera, presst sich eine Hand auf den hungrig knurrenden Magen und wartet, bis die Show des Maskierten ein Ende findet. Es dauert noch einige unerträglich lange Minuten bis er sich von seinen Zuschauern verabschiedet und die Kamera abgestellt wird. Alice tritt hervor. „Hallo, Vergo.“

Vergo dreht sich zu ihr und klatscht in die Hände. „Schön, dich zu sehen, Alice. Du kommst perfekt zum Essen.“

Der Maskierte ragt weit über Alice hinweg. Sie muss ihren Kopf in den Nacken legen, um ins verborgene Gesicht des jungen Mannes zu schauen, dessen heutiges Opfer komplett auseinandergenommen auf verschiedenen Tischen verteilt liegt.

Sie gibt keinen Ton von sich, sondern setzt sich an irgendeinen Tisch, darauf wartend, dass ihr Essen gebracht werden würde. Nur wenige Momente später stellt der Koch einen Teller vor sie. Schnitzel mit Rahmsoße, Champignons und Kroketten. Sie lässt sich nicht einmal die Zeit, sich bei ihm zu bedanken, bevor sie, nach wie vor unter Schmerzen, das Menschenfleisch verschlingt. Der Geschmack des vertrockneten Blutes ihres Opfers mischt sich zu dem des Essens. Alice genießt diese Vermischung der Geschmäcker.

Vergo selbst isst seine Portion langsam und genusshaft. Er beobachtet das kleine Mädchen aus dem Augenwinkel und bringt ihr einen weiteren Teller, als sich ihr Essen dem Ende neigt. „Die Show heute war ein voller Erfolg. Die Einschaltquoten sind durch die Decke gegangen!“, versucht er, seine Euphorie und Freude über den Abend zu teilen, während sie gemeinsam essen. Alice gibt nur ein halbherziges „mmh“ von sich und widmet sich weiterhin dem Fleisch vor ihr.

Das Lächeln unter der Maske schwächt etwas ab, doch der Koch lässt sich nicht abwimmeln. „Wenn du letzte Woche erlebt hättest, könntest du kaum glauben, dass es noch besser laufen könnte. Hast du die Folge denn gesehen?“

„Hab ich nicht.“ Alice rümpft die Nase als sie daran denkt, dass sie während der Sendezeit bei dem komischen Psychologen eingesperrt gewesen war.

Das Lächeln wird ein weiteres Stück kleiner. „Wie schade! Aber heute! Du musst dir die Aufnahmen-“

„Gibt’s einen Grund warum du so viel von heute sprichst? Irgendwas besonders?“, unterbricht ihn Alice und schaut vom Essen auf. Ihre zweifarbigen Augen blicken neugierig zum Koch.

Vergo reibt sich erfreut die Hände. „Heute hatten wir einen Stargast. Du kennst ihn sicherlich. Sleepless hat uns einen Besuch abgestattet!“ Das Mädchen runzelt die Stirn. Sie verfolgt den Mörder schon eine Weile. Er und sie teilen etwas, auf das sie der Psychologe aufmerksam gemacht hatte. „Der mit den zwei Augenfarben, oder?“

„Genau der!“ Sein Grinsen ist wieder so breit wie am Anfang. In Alice‘ Kopf hallt die Stimme des Psychologen wider.

Weißt du, was Beptus ist? Sie zieht die Augenbrauen zusammen und schaut zu Vergo. „Kann ich dich um einen Gefallen bitten?“

Der Maskierte nickt freundlich.

„Sag mir bitte Bescheid, sollte sich Sleepless nochmals bei dir melden.“ Beptus. Er weiß sicher mehr darüber.


Fußnote:

Autor:

AliceChan36

Veröffentlicht im Fandom Creepypasta Wiki 17.08.2014

Änderungen:

Wechsel der Erzählperspektive von Ich-Erzähler zum Erzähler aus der dritten Person

Setting detaillierter ausgearbeitet

Nebenfigur detaillierter ausgearbeitet

Mordhergang realistischer ausgearbeitet

Seelensammeln ersetzt mit Lebensenergie, für Graue-Welt-Konformität

Logikfehler an vielen Stellen korrigiert

Umgeschrieben durch Lou

Autor: AliceChan

reihe/alice/alice-zweiter_akt.txt · Zuletzt geändert: 16.11.2022 23:53 von lou