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Gewissheit

Übersicht - Redbird

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Der Syndikatskrieg ist seit einigen Tage beendet. Bis heute geht mir dieser Einauge einfach nicht mehr aus dem Kopf. Befinde mich kniend vor dem Grabstein, der sich hinter dem Haus befindet. „Thomas Morgan, gestorben im 60. Lebensjahr am 29. Februar 1940. Mögen wir uns in deinem nächsten Leben wiedersehen.„, lese ich die Inschrift leise vor. Der kleine, runde, lilafarbene Kristall, der in der Aushöhlung des Grabsteines liegt, leuchtet von innen heraus. Seufze und starre auf den Grabstein meine Vaters, als meine Gedanken wieder zu diesem Kerl wandern. Könnte es sein, dass er es ist? Spiele gedankenversunken mit einer Haarsträhne. „Weist du, was man sagt, wenn eine Frau mit ihrem Haar spielt und über einen Typ nachdenkt?“, kommt es spitzbübisch von Melaphyr, der durch das offene Fenster ins Freie gesprungen ist und sich nun zu mir gesellt. Ziehe fragend eine Augenbraue hoch. Ihm fällt manchmal echt nichts Gescheites ein. „Das Einzige, was ich will, sind Antworten„, erwidere ich trocken und wickele weiter mein Haar um meine Finger. „Wenn du hier herumsitzt und weiter auf den Grabstein deines Vertragspartners starrst, wirst du auch nicht erfahren, ob du mit deiner Vermutung richtig liegst“, äußert er dieses Mal nüchtern. An sich hat er ja Recht, aber nach dem, wie Einauge nach dem Kampf aussah, bezweifle ich sehr, dass er sich gerade damit befassen wird oder es überhaupt will. Dennoch sollte ich das ein für allemal klären. Nicht zuletzt, da es sich ein Dämon gerade so richtig in ihm gemütlich macht. Nach kurzem Abwägen stehe ich auf und wende mich zu Melaphyr. „Bleib hier, ich werde bald wieder zurück sein!„ Damit teleportiere ich mich fort, zur Mondloge nach Deutschland.

Stehe im nächsten Moment im Aufenthaltsraum der Loge. Es herrscht eine überraschend drückende Stille hier, als ob vor kurzem jemand gestorben wäre. Schicke augenblicklich ein paar der Umbras aus, damit Sie sich nach Einauge umsehen. Als ich alleine mit meinen Gedanken zurückbleibe, spiele ich geistesabwesend wieder mit meinem Haar. Komme ich zu spät? Was, wenn er es war? Dann müsste ich wieder warten. Das hätte ich so oder so gemusst, da er mich ja noch nicht gerufen hat. Ehe ich mich selbst weiter völlig nervös machen kann, kommen die Umbras auch schon zurück. Sie haben ihn in den Krankenräumen gefunden. Stumm befehle ich den Umbras, dass sie wieder gehen sollen, was sie auch umgehend tun, und ich befinde mich einen Wimpernschlag später in einem Krankenzimmer, in dem ein einzelnes Bett steht. In der Sichelloge sehen diese Zimmer nicht viel anders aus.

Im Bett liegt Einauge und starrt den Umbra zu seiner Rechten an. Dieser geht auf Einauge zu, um ihn zu beschnuppern, und geht dann wieder auf Abstand. „Verzeihung. Meine Kleinen sind immer etwas neugierig. Ich bin Liliana, schön, dich kennenzulernen, Einauge.“ Das Schattenwesen läuft zu mir und stubst schnurrend seinen Kopf gegen meine Hand. Verwöhnte Wesen, alle von ihnen. Kraule dennoch den Kopf des Umbras. Einauge verzieht den Mund zu einem schiefen Grinsen und sagt ironisch: „Was verschafft mir die Ehre, von einem Mitglied eines anderen Syndikats besucht zu werden?„ Dieses Grinsen hat er auch immer wieder im Kampf zur Schau gestellt. Soll mich nicht weiter stören. „Ich habe gehört, dass Sie im Besitz von Informationen sind, die mich sehr interessieren würden.“

„Von wem hast du denn das gehört?„

„Wie soll ich sagen? Ein Vögelchen hat es mir gezwitschert.“ Verwundert heben sich seine Brauen. „Und was für Informationen sollen das sein, die dich so sehr interessieren würden?„

„Die Informationen, die ich benötige, sind in deinem Geist, deiner Seele oder wie auch immer du es nennen willst“, antworte ich kopfschüttelnd. „Alles, was ich verlange, ist, kurz einen Einblick in deine Erinnerungen zu bekommen.„

Das Bett knarzt, als er sein Gewicht verlagert und sich anders hinsetzt, während er mich süffisant angrinst.

„Und was hätte ich davon, wenn ich dieser Bitte nachkommen würde?“, fragt er nach, während sein Blick über meinen Körper schweift. „Meinen ewigen Dank.„ Unterstreiche die Worte mit einem ebenso süffisantem Lächeln. Er reagiert sofort darauf und meint mit seinem typischen überheblichen Grinsen: „Und wie genau würde der sich ausdrücken?“ Kann mir ein Kichern nicht verkneifen. „Nun, sagen wir, ich würde dir einen Gefallen schulden. Allerdings gibt es ein paar Beschränkungen.„ Er atmet hörbar aus und meint gespielt gequält: „Gibt es die nicht immer? Lass mich raten: es betrifft die Sichelloge, dass…“ Hebe meine freie Hand und unterbreche ihn, bevor ich ihm erkläre: „Ich mag zurzeit noch für die Sichelloge arbeiten. Solange mir mein Boss nicht etwas anderes sagt. Und das ist eine der Beschränkungen. Der Gefallen darf weder meinem Boss noch mir schaden.„

Neugier spiegelt sich in seinem Gesicht wider, während er seine Stirn in Falten legt. „Und dein Boss ist nochmal genau wer, wenn es niemand aus der Loge ist?“ Ignoriere schmunzelnd seine Frage. Werde die Antwort vorerst für mich behalten. „Also, was sagst du zu diesem Vorschlag, ja oder nein?„ Für einen Moment sind nur die zufriedenen Laute des Umbras zu hören. Schicke ihn fort, und sobald wir alleine sind, nickt der Einäugige.


Sowie ich in seinen Geist eintauche, bin ich von Schwärze umgeben. Wie Sterne funkeln die verschiedenen Erinnerungen. Gerade als ich vollständig eingetaucht bin und nach einer Spur des Vertrages suchen will, blitzt eine Erinnerung auf, und so erlebe ich diese auf gewisse Weise. Dazu noch eine Erinnerung, die Wissen enthält, ohne das ich auch gut hätte leben können.

„Bitte…hören sie auf!“, fleht eine weinerliche Frauenstimme. Sie klingt kaum anders als die der Kerle, die ich gefoltert habe und die vor Schmerz geschrien haben. Doch kann ich die Frau nicht sehen, da Thomas' Blick auf einen kleinen Servierwagen geheftet ist, auf dem sich Folterinstrumente befinden. Einige noch mit frischem Blut beschmiert, auf anderen trocknet das Blut schon. „Was hast du denen erzählt, Alina?“, fragt Thomas mit strenger Eiseskälte, während er sich die Folterinstrumente genau ansieht und abwägt, welches er als Nächstes benutzen wird. „B-bitte, lass das sein, Thomas! Liliana würde-„ Ihre eigenen Schmerzensschreie unterbrechen sie, als Thomas sich in Sekundenschnelle auf dem Absatz herumdreht und ihr ein stumpfes Skalpell in den Oberschenkel rammt. „Liliana hat damit nichts zu tun, und entgegen deiner eigenen Behauptung: 'Sie würde das nicht wollen. Sie würde das nicht tun.' solltest du noch einmal überlegen, wer und was sie ist. Und sie ist meine Tochter.“ Weitere Tränen fließen aus ihren Augen und treffen unter ihrem Kopf auf den Autopsietisch, an den sie gefesselt ist. „Nur auf dem Papier! Sie ist und wird niemals deine Tochter sein, sie ist nicht von deinem Blut!“, schreit sie aus Leibeskräften, während sie mit hilflosem Gezappel gegen die Fesseln ankämpft. Von der einen Sekunde auf die andere verändert sich alles. „Und doch würde sie dich foltern und töten, wenn ich es ihr befehle.„ Seine Emotionen sind deutlich zu spüren in dieser Erinnerung, und so lebhaft, als wäre es nicht vor Jahren, sondern gerade eben geschehen. Sein zuvor kaltes Gemüt wechselt schnell in eine alles versengende Hitze, die durch seine Wut nur an Intensität gewinnt. Doch bleibt er äußerlich weiter ruhig und geschäftsmäßig.

Nehme alles in mich auf, den dunklen Raum, die Verletzungen, die Alinas Körper verunstalten, ihren Verrat, und wie Thomas sie vollends verstümmelt. Langsam verschwimmt die Erinnerung und ich bekomme nur noch undeutlich mit, wie Alina sich weiter die Seele aus dem Leib schreit. Es ist egal, aus welchen Gründen sie mit der Polizei oder sonst jemandem geredet hat, ob und was sie verraten hat. Sie hat die Loge verraten. Sie hat meinen Adoptivvater, Mentor und Herren verraten. Wäre ich dort gewesen, hätte ich sie mit meinen eigenen Händen zum Reden und zum Schweigen gebracht. Nur ein Wort von ihm und ich hätte es getan. Zorn, der sich gegen mich selbst richtet, ergreift von meinem Geist Besitz. Scham darüber, dass ich es nicht bemerkt habe, und Wut über das, was sie getan hat. Immerhin erklärt das ihr Verhalten der letzten Monate vor ihrem Verschwinden, und warum ich sie einfach so, von jetzt auf gleich, abstoßend fand. Schüttele meinen Kopf in dem Versuch, auf andere Gedanken zu kommen.

Schiebe diese Erinnerung von mir und versuche mich wieder zu beruhigen. Doch hat da jemand andere Pläne.

„Sieh an! Wenn das mal nicht ein flügelloser Engel-Abklatsch ist“, äußert spöttisch eine dämonische Stimme, die aus dem schwarzem Nebel kommt. „Und wenn das mal nicht ein Dämonenführer ohne Untergebene ist„, erwidere ich im selben spöttischen Ton. „Erweise mir gefälligst Respekt, du Küken!“, herrscht mich der Möchtegern-Dämonenherrscher an und versucht, seinen Nebelkörper beeindruckend vor mir aufzubauschen. Hat was von 'ner Zuckerwatte, fehlt nur noch der Holzspieß. „Hmm, lass mich mal kurz nachdenken! Hmm? Nein, ich denke nicht. Und ich wollte auch gerade wieder gehen. Also keine Angst, ich will dir deinen 'Nistplatz' nicht streitig machen. Denn im Gegensatz zu dir benötige ich keinen Wirtskörper.„ Blicke auf den Dämonennebel hinab. Sollte er Thomas schaden, werde ich persönlich dafür sorgen, dass das Wort Hölle für ihn neu definiert wird. „Schon bald wirst du nicht mehr so herablassend reden können, kleines Küken. Dafür sorge ich, egal was du zur anderen Hälfte bist“, meint die drittklassige Zuckerwatte. Sehe ihn überrascht an. Sonst merken das nur wenige; oder sie ignorieren es, weil ich ein Dämon bin. „Wow. Das erste Wesen, das mich nicht als Mensch-Hybride beschimpft.„ Ein tiefes Grollen dringt aus dem Nebel des Dämons hervor, das wohl ein Lachen sein soll. „Lässt sich einrichten.“ Der ist bei der erstbesten Gelegenheit fällig. Knurre ein „Fick dich„, ehe ich mich ganz aus Einauges Körper zurückziehe.


Lasse die Hand sinken, mit der ich eben noch Einauge festgehalten habe. „Das war's schon. Du bist gerade um einen nicht näher definierten Gefallen reicher geworden.“ Ich trete ein paar Schritte zurück, während er sich etwas abwesend übers Handgelenk reibt. Er scheint wohl eine Frage zu haben, die er aber nicht äußert. „Und? Darf ich fragen, wonach du gesucht hast, was an mir so interessant ist?„, fragt er stattdessen. Schmunzle über die Frage. Lehne mich etwas vor und sehe ihm direkt ins Auge. „Darfst du. Du darfst bloß keine Antwort erwarten. Natürlich könntest Du deinen Gefallen dafür einsetzen, wenn du es so dringend wissen möchtest.“ - „Ich benutze ihn lieber für ein etwas anderes Vergnügen„, winkt er jedoch ab. Atme einmal tief durch und seufze theatralisch. „Ich hoffe für dich, du meinst etwas mit sehr viel Blut und Gemetzel, ansonsten wird keiner von uns beiden viel Spaß an diesem Gefallen haben“, entgegne ich mit einem wehleidigen Unterton. Einauge zuckt zusammen, als ob ihm das wirklich Schmerzen bereitet hätte. „Autsch. Bin ich so schlimm zugerichtet?„ Ich kichere über seinen Gesichtsausdruck und mache eine wegwerfende Handbewegung. „Ich interessiere mich nur für Frauen. Da würde es auch nichts bringen, wenn du wieder fit wärst. Zu deiner Frage, wer mein Boss ist: es ist Thomas Morgan“, lenke ich die Unterhaltung wieder auf ein etwas ernsthafteres Thema. Einauge nickt und meint: „Er muss ja einiges draufhaben, wenn er dich dazu bringt, ihm gegenüber so loyal zu sein.„ Wieder diese anzüglichen Formulierungen und sein typisches Grinsen. Schüttle amüsiert den Kopf. „Einige Väter haben das so an sich, dass sie ihre Töchter beeindrucken. Nun denn. Falls du mal Hilfe brauchst oder so, musst du einfach nur so ein Symbol zeichnen.“ Ziehe zwei gefaltete Zettel aus meiner Hosentasche und gebe sie ihm. Er beäugt die Zettel kurz und steckt sie weg, während er fragt: „Reden wir immer noch über den Gefallen?„ Schüttle amüsiert meinen Kopf. Es ist merkwürdig, einen Jüngling vor mir zu haben statt des reifen Herrn, den Thomas' Seele für mich verkörpert. Hat es sich für Thomas auch so angefühlt, als ich noch kleiner war? So ungewohnt? „Nope.“ Betrachte sein neues Erscheinungsbild. Sein Haar hat sich nicht verändert, das braune Auge und die Augenklappe links sind etwas ungewohnt, so auch seine tiefschwarze Haut bis zum Hals. „Sicher, dass du nur auf Frauen stehst?„ Aus meinen Gedanken gerissen wandert mein Blick wieder zu seinem Gesicht, und ich werde augenblicklich mit einem süffisant-schmierigen Grinsen konfrontiert. Lehne mich schnaubend an die Wand zu meiner Rechten. „Stehst du auf Frauen, die fünfmal so alt sind wie du?“, frage ich mit hochgezogenen Augenbrauen. Ein anerkennendes Pfeifen seinerseits. „Da hat sich aber jemand gut gehalten.„ Lächle ihn unschuldig an und zucke mit den Schultern. Mit einer wegwerfenden Handbewegung meine ich: „Jeden Tag eine gute Feuchtigkeitscreme auftragen, gesunde Ernährung, hin und wieder eine Jungfrau Opfern oder Kreaturen jagen und töten. Das Übliche halt.“

Nach einer Weile verabschiede ich mich und setze mich lächelnd auf die Veranda des kleinen Hauses.

Blicke zu den Sternen auf, hätte nicht gedacht, dass es so viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Nun gut, ich hab ja auch danach noch viel mit ihm geredet. Obwohl dazu kein Grund mehr bestand. Aber wie es halt mit der Neugier so ist. Ich werde sicher in der nächsten Zeit mal schauen, was die Datenbank der Loge so über ihn hergibt.

Mit der Andeutung eines Lächelns summe ich leise eine unbestimmte Melodie. „Liliana.„ Drehe mich zur Tür um und schenke dem kleinen Kobold meine Aufmerksamkeit. Dieser sieht mich mit einem blutrünstigen Grinsen an. „Du weißt, wo sie sind?“, frage ich in dem Versuch, meine Aufregung zu verbergen. Melaphyrs Grinsen wird eine Spur verschlagener, und mit einem verzerrten Kichern nickt er. Augenblicklich macht mein Lächeln dem seinen Konkurrenz und mit mehr Kraft als nötig stoße ich mich vom Boden ab. Dieser Tag ist fast vorbei und wird mit jeder verbleibenden Sekunde immer besser. Ich dachte schon, ich hätte sie für immer verloren - meine Flügel.

„Es wird Zeit, ihnen einen Besuch abzustatten und mir wiederzuholen, was mir gehört. Mind joining me, Melaphyr?„


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Hikaru_Mitena

reihe/redbird/redbird_8.txt · Zuletzt geändert: 23.11.2020 08:48 von hikaru_mitena