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reihe:there_aint_no_justice:kapitel_3

Prinzipienreiter

Kapitel 3

Irina wurde von der Sonne geweckt, die ungehindert durch das Fenster schien. Verwirrt und ein wenig schlaftrunken stellte sie fest, dass sie gestern die Jalousie nicht runtergelassen hatte und zudem nackt war. Normalerweise trug sie nachts eine ausgeleierte Jogginghose und ein altes Unterhemd von Karsten, weil sie schnell fror. Dann stürmte die Erinnerung auf sie ein, sie verbarg das Gesicht in den Händen und ließ den Tränen freien Lauf. Von Scham überwältigt versuchte sie sich tiefer in die Decke zu kauern. Dieses Aas! Er spielte nur mit ihr. Er hätte sich gestern einfach nehmen können, was er wollte, sie hatte seine Erregung deutlich gespürt, aber er zog es vor, ein abartiges Spiel mit ihr zu treiben. „Tanj!“, fluchte sie. Augenblicklich kochte ohnmächtige Wut in ihr hoch. Sie biss ins Kopfkissen und schrie aus Leibeskräften den Zorn heraus. Das Kissen dämpfte den Schrei auf Zimmerlautstärke. Dann überwältigte sie ein Gefühl ohnmächtiger Hilflosigkeit. Die Tränen rannen ihr heiß über das Gesicht und versickerten im Kissen. So ungerecht konnte die Welt doch nicht sein! Irina hatte sich immer bemüht, alles richtig zu machen. Sie hatte immer versucht, ein guter Mensch zu sein, war als ausgebildete Seelsorgerin in Krisengebiete gefahren und hatte immer wieder verschiedene Hilfsorganisationen unterstützt. Es war Teil ihrer Identität, sich für die Schwachen und Unterdrückten einzusetzen, und sie war fest davon überzeugt, dass sie die Welt mit ihrer Arbeit ein wenig besser gemacht hatte. Der Verlust von Karsten hatte sie aus der Bahn geworfen. Aber Irina gab nicht einfach auf, sie hatte ihre Trauer und Wut genutzt und als Motor verwendet, bis ihre Mühe belohnt wurde und der Mörder ihres Verlobten ins Gefängnis wanderte. Das war gerecht gewesen! Verdammt! Dieses Schwein hatte es verdient, wieso konnten manche Menschen ihre Fehler nicht einsehen und sich damit abfinden, dass sie im Unrecht waren? „Tanj!“ Fluchte sie noch einmal, „Tanj! Tanj! Tanj!“ Es gab keine Gerechtigkeit. Was sollte sie jetzt tun? Mitspielen und sich an die Regeln halten? Bei diesem Gedanken brodelte die Wut erneut in ihr hoch. Das Kopfkissen musste einen weiteren Zornesschrei erdulden, bevor Irina den Gedanken weiter verfolgen konnte. Alles in ihr wehrte sich dagegen, einfach brav mitzuspielen, sich wie ein Schaf zur Schlachtbank führen zu lassen, andererseits hatte sie keine Ahnung, wie sie den Killer loswerden könnte. Sie brauchte Zeit, um einen Plan zu entwickeln. Zeit, in der sie sich ein Bild von ihm machen konnte, seine Methode genauer analysieren konnte, um eine Schwachstelle zu finden. Also musste sie wohl mitspielen. Ein dritter Wutschrei versickerte im Kissen. Sie konnte doch nicht einfach klein beigeben! Verdammt, sie war doch kein Opfer! Irina rief sich alles ins Gedächtnis, was sie als Seelsorgerin wusste und gelernt hatte. Die erfahrene Demütigung musste sie so schnell wie möglich verarbeiten. So leicht würde sie nicht aufgeben! Der Killer sollte sich an ihr die Zähne ausbeißen! Es stand zwar zu befürchten, dass er die Regeln seines Spiels jederzeit ändern würde, wie es ihm passte, doch er wollte sie ohnehin am Ende umbringen, was bedeutete, dass Irina sich auf gar nichts verlassen konnte. Was blieb? Was sollte sie jetzt tun, mit dem Wissen, dass er sie vor dem Tod in ein unsichtbares Gefängnis aus Überwachung und unsinnigen Regeln sperrte, um zu sehen, wie sie langsam mürbe wurde und daran zerbrach? Wie sie es auch drehte, alles, was ihr blieb, waren ihre Überzeugungen. Sie konnte nichts weiter tun, als sich selbst treu zu bleiben, um im Augenblick des Todes mit reinem Gewissen zu sterben. Für Karsten! Irina schluchzte und wischte sich mit dem Zipfel der Bettdecke die Wangen trocken. Langsam versiegten die Tränen. Sie fühlte sich hoffnungslos, verloren und allein. Eine tiefe Leere nahm den Platz ein, der zuvor von der Wut beherrscht worden war. Was jetzt? Ihr Magen knurrte. Ungeachtet der Ausweglosigkeit ihrer Lage verlangte der Körper nach Nahrung. Irina musste sich einen Moment sammeln, bevor sie es wagte, das Bett zu verlassen und nackt durch das Zimmer zum Kleiderschrank zu gehen. Sie fühlte sich beobachtet, die Worte des Auftragskillers hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Der Gedanke, dass er irgendwo lauerte und sein Blick auf ihrer nackten Haut klebte, verursachte ihr Bauchschmerzen, aber sie wollte sich das nicht anmerken lassen. In einen weiten Pullover und eine schlabberige Jogginghose gekleidet verließ sie das Schlafzimmer. Nichts deutete mehr auf den Eindringling hin, der sich in der Wohnung breit gemacht hatte. Der Tee war abgeräumt, die Tassen gespült, die Kleidung von gestern lag ordentlich gefaltet auf einem Stuhl. Selbst die Einkäufe hatte der Auftragskiller ausgeräumt und richtig sortiert. Irina stand eine geschlagene Minute vor dem geöffneten Kühlschrank und starrte feindselig auf die gestapelten Milchtüten, die der Killer richtig eingeordnet hatte. „Was für ein Wichser!“, fluchte sie und knallte die Tür wieder zu. Von wegen, er würde sie „ab jetzt“ beobachten, der hatte sie doch schon vollkommen ausspioniert! Er wusste, wie viele Löffel Zucker sie in ihren Tee tat und war sogar mit der Kühlschrankordnung vertraut. Wusste der Himmel, wie oft er ihr bereits beim Duschen zugesehen hatte. Oh, sie würde sich nicht die Blöße geben und heute darauf verzichten, oder erst im Dunkel duschen, nur, weil er sie gestern gedemütigt hatte. Das Aas kannte doch eh schon jeden Zentimeter ihres Körpers! Irina stampfte ins Bad, zog sich aus und zeigte den Wänden Stinkefinger. Teils, um etwaige Kameras zu beleidigen, aber auch, um sich selbst Mut zuzusprechen. Dem Spiegel schnitt sie eine Grimasse und streckte ihm die Zunge raus, dann betrat sie die Dusche und blendete für einen Moment alles aus. Mit geschlossenen Augen genoss sie das heiße Wasser und fühlte, wie sie mit dem Schaum des Duschgels auch die Scham abspülte. Neuer Mut durchströmte sie. Irina würde kämpfen, sie war kein Opfer, sie würde mitspielen, vielleicht sogar eine Lücke in seiner Methode finden, und dann würde es Gerechtigkeit geben. Für Gerechtigkeit musste man kämpfen! Die Welt war von sich aus nie gerecht. Nach der Dusche kochte Irina Vanillepudding. Sie wollte die erfahrene Demütigung so schnell wie möglich verarbeiten und sich auf den Kampf vorbereiten. Als Seelsorgerin wusste sie genau, dass das nicht an einem Tag erledigt werden konnte, aber sie hatte keine Zeit zu verlieren. Sie musste sich wohl mit Auto-Suggestion und Verdrängung begnügen, wenn sie heil und ganz bleiben wollte. Als sie das Wohnzimmer betrat, stand auf dem Tisch ein Saftglas, in dem eine kirschrote Rose steckte. Finster blickte Irina die Blume an, bevor sie zornig aufschrie, den Pudding schwungvoll auf den Tisch knallte und der Rose die Blüte abriss. Dabei stach sie sich in den Finger, doch der Schmerz wurde von dem glühenden Zorn einfach weggewischt, und sie zerfetzte die Blume, mit vor Wut zitternden Fingern, in winzig kleine Stücke. Danach fühlte sie sich fast erschöpft. Diese einfache Handlung hatte ihren Zorn vorerst verrauchen lassen. So nahm sie es beinahe mit Gleichmut hin, dass der Killer sich in die Wohnung geschlichen hatte, während sie unter der Dusche stand, um die Rose im Wohnzimmer zu platzieren. Sicher war dies die Quittung für die Stinkefinger im Bad, aber jetzt hatte sich Irina entschieden, sie würde kämpfen! Mit dem Pudding und ihrem Lieblingsfilm machte sie es sich auf dem Sofa so gemütlich, wie es ging, und versuchte dennoch für den Killer kämpferisch zu wirken.


reihe/there_aint_no_justice/kapitel_3.txt · Zuletzt geändert: 04.11.2020 14:14 von hikaru_mitena