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Das Ritual

Lukas


Es ist gerade kurz nach 0 Uhr. Ich sitze hier mit zwei mir unbekannten Typen an einem Tisch in der hintersten Ecke dieser Bar und warte auf einen gewissen Redbird. Die Kontaktaufnahme lief über einen Kerl, den ich auf der Straße getroffen habe. Meinte, ich könnte mehr erreichen als einfach nur leerstehende Häuser auszurauben. Was die anderen beiden hierhergebracht hat, weiß ich nicht, es interessiert mich auch nicht wirklich. Vor mir steht ein halb leergetrunkener Gin Rickey, der wie die Drinks der anderen beiden auf diesen Kerl gehen soll. Hat uns das Barpersonal gesagt. Der Mexikaner zu meiner Linken hat seinen Drink kaum angerührt, und der Amerikaner auf der anderen Seite des Tisches wartet gerade auf seinen zweiten. Nachdem die Bedienung zwei statt einem Getränk abstellt, wird die Tür geöffnet. Mit einem Seitenblick mustere ich den Neuankömmling.

Eine junge Frau betritt die Bar. Lange, flammend rote Haare, gute Figur. Würde ich nicht von der Bettkante schubsen, aber doch ziemlich unpassend in diesem Lokal. Völlig entspannt und mit einem Lächeln auf den Lippen begibt sie sich zu unserem Tisch. Wut keimt in meinem Inneren auf, als unzählige Gedanken meinen Kopf füllen. Auch die anderen sehen wenig begeistert aus, als sie sich mit dem Rücken zur Tür auf den freien Platz setzt. Im Licht der Bar erkennt man dennoch ihre großen Augen, die hohen Wangenknochen, eine grazile Nase und volle Lippen. Das einzige, was nicht ganz passt, sind die Augen: sie sind völlig schwarz. Ein leises Kichern kommt über ihre Lippen, als sie eines der frischen Gläser nimmt und an dem Drink nippt. Gänsehaut zieht sich über meine Arme. „Ramon, Lukas und Jacob, nehme ich an. Freut mich, dass ihr euch alle entschieden habt herzukommen. Wobei ich den Eindruck habe, dass ich nicht so ganz das bin, was Ihr erwartet habt. Zumindest nach dem Ausdruck auf euren Gesichtern zu urteilen.„ Will sie damit etwa sagen, dass sie Redbird ist? Sie sieht mich direkt an und antwortet auf meine unausgesprochene Frage: „So ist es, ich bin Redbird. Und ich werde mich während der folgenden Mission näher mit euch befassen, um zu sehen, ob ihr die Erwartungen erfüllt. Eigentlich war mein Boss nicht gerade begeistert von der Idee. Aber ich konnte ihn dazu überreden, mir drei neue Leute auszusuchen. Kurz, ihr verdankt es mir, dass ihr die Aufnahmeprüfung machen dürft“, erzählt sie mit Euphorie in der Stimme.

Mit einem Schnauben meldet sich der Amerikaner, der rechts neben Redbird sitzt, zu Wort, während er sich über den Tisch zu ihr beugt: „Du willst also sagen, dass eine Frau bei diesem Verein arbeitet! Als ob ich mir von dir etwa…!„ Ihre Hand schnellt vor und im nächsten Moment erwürgt sie den stämmigen Mann fast. Immer noch völlig die Ruhe selbst, richten sich ihre schwarze Augen auf ihn. Der Griff um seine Kehle wird stärker, mit der Folge, dass sein Kopf weiter rot anläuft. “Ob du damit klar kommst, dass ich dir für diese Mission die Hinweise gebe, die für dein Überleben wichtig sind und über deine Aufnahme entscheiden, ob du diese annimmst oder ob du sie ignorierst, weil dein Ego weit über dem Maß deiner Kräfte liegt und erschwerend hinzukommt, dass deine Intelligenz noch kleiner zu sein scheint als deine Männlichkeit, ist mir gleichgültig.

Als sie ihn wieder loslässt, sitzt er dieses Mal ruhiger in seinem Stuhl. Murrend reibt er mit der Hand über seinen Hals, während der Mexikaner dafür nervös auf seinem Platz herumrutscht. “Oh bitte, diese Klischees kannst du ruhig vergessen. Die Santa Madre de Dios spielt keine Rolle bei unserem Deal„, spricht sie diesen an und gibt mit einem Lächeln eine Reihe makellose Zähne preis. „Und was genau müssen wir bei dieser Aufnahmeprüfung machen?“, frage ich die Schwarzäugige.

Ist euch der Slenderman bekannt?„ Unglauben breitet sich in den Gesichtern der anderen beiden und auch meinem aus. „Sollen wir etwa jetzt im Wald nach Zetteln suchen, oder was?“, fragt der Amerikaner etwas zurückhaltender als vorher. Mit einem Kichern stützt sie ihre Arme auf den Tisch und legt ihren Kopf in die Hände. „Nein, es wird weitaus einfacher. Es wird ein Ritual vollzogen, zu dem man mindestens vier Wesenheiten benötigt. Im Grunde ist es sehr simpel, damit wollen wir eure Belastbarkeit etwas austesten. Aber dennoch kann es sehr tödlich sein. Wenn man etwa die Warnungen ignoriert, nur weil sie von einer Frau kommen.„ Bei den letzten Worten schenkt sie dem Hitzkopf einen amüsierten Seitenblick, den er mit einem genervten Schnauben quittiert. Das Folgende, was der Mexikaner und Redbird bereden, verstehe ich nicht mal ansatzweise. Den Amerikaner scheint der Umstand aufzuregen, dass er nicht ein Wort versteht. Nachdem der Wissensdurst des Mexikaners gestillt zu sein scheint, breitet sich erneutes Schweigen über dem Tisch aus, als Redbird sich erneut ihrem Drink widmet. Genüsslich nippt sie an diesem und leert langsam das Glas. Während die anderen ihren Gedanken nachhängen, lasse ich mir selbst auch noch mal alles durch den Kopf gehen. In einem Zug leere ich mein Glas und stelle es ab. Werde mir diese Chance nicht entgehen lassen. Auch die anderen scheinen sich entschieden zu haben und sehen erwartungsvoll Redbird an, als sie das leere Glas abstellt. „Dann sollten wir nun los.“ Damit erheben sich alle und wollen ihr schon nach draußen folgen.

Kurz berührt sie die anderen am Arm, woraufhin sie einfach verschwinden. Als sie bei mir das gleiche tut, finde ich mich augenblicklich in einem verschneiten, dunklen Wald wieder. Die anderen sind auch da und scheinen ebenso verwirrt zu sein wie ich. „Was geht hier vor? Wie hast du das gemacht?“, frage ich verblüfft. Sie erwidert meinen misstrauischen Blick mit einem lapidaren „Der Slenderman ist nicht die einzige Lebensform, die sich teleportieren kann.“ Damit übernimmt sie die Führung unserer kleinen Truppe. Und wir müssen uns mit dieser nichtssagenden Aussage abfinden.

Immer wieder raschelt es um uns herum, doch kann ich niemanden entdecken. Auch die anderen scheinen das Rascheln zu bemerken. „Macht euch um die keine Gedanken! Sie werden nicht angreifen„, bemerkt Redbird lediglich. Als ich erneut meinen Blick durch den Wald schweifen lasse, sehe ich mehrere Menschen, einige mit entstellten Gesichtern, Masken, andere mit durchscheinenden Körpern. Was sind das nur für Freaks? Als ich meinen Blick wieder nach vorne richte, bemerke ich, dass wir auf eine Lichtung zulaufen. Auf dieser ist der Schnee festgetrampelt worden, am Rande führen Fußspuren in den Wald. In der Mitte der Lichtung befindet sich eine Art Schutzkreis, der mit schwarzer Farbe in den Schnee gezeichnet wurde.

Auf den ersten Blick ist niemand dort zu sehen, doch nach einem Zwinkern steht ein riesiges, gesichtsloses Wesen mit schwarzem Anzug und roter Krawatte mitten auf der verschneiten Lichtung. Erschrocken zucke ich zusammen, auch die anderen schrecken zurück und starren die Gestalt mit gemischten Gefühlen an. Nur Redbird scheint das Ganze nicht zu beunruhigen. Dieses Kreatur soll in den letzten Jahren unzählige Menschen entführt haben, auch Kinder; man hat keinen von ihnen je wieder gefunden. Nicht einmal die Leichen.

Du hast dir sehr viel Zeit gelassen“, spricht das Wesen, welches auch als der Slenderman bekannt ist. Mit einem Schulterzucken tut sie seine Aussage ab und knöpft ihren Mantel auf. „Ich bin doch hier, oder nicht? Und ich habe den Gegenstand dabei, den ich für das Ritual ausgewählt habe. Plus die restliche Anzahl an lebenden Wesenheiten„, und holt aus dem Inneren ihrer Manteltasche einen schwarzen Kristall hervor. „Jetzt bist du mit deinem Teil der Abmachung dran.“ Der Slenderman nickt kurz und deutet mit einer ausladenden Bewegung auf die anderen leeren Kreise hinter sich, die an je einem anderen Ende des X und außerhalb der übrigen, konzentrischen Kreise stehen. Redbird dreht sich um und befiehlt: „Stellt euch in die äußeren Kreise!„, sieht dabei den Hitzkopf aus unserer Gruppe herausfordernd an. Dieser stellt sich zerknirscht in einen Kreis, und auch wir anderen gehen zu einem der übrigen zwei Plätze. Ohne jede Scheu zieht sich die Schwarzäugige aus, verschwindet kurz und steht einen Moment später innerhalb des Kreises, dem Slenderman zugewandt. Scham scheint sie wohl nicht zu besitzen.

Mit einem Mal scheint sich ihr Äußeres zu verändern und ihr gesamter Körper wird blutrot, wächst, und auch das Haar wird länger, es reicht ihr jetzt bis über den Hintern. Mit einem der vier Tentakel, die aus seinem Rücken ragen, ritzt der Slenderman ein „S“ in Redbirds Haut, oberhalb des Brustbeins. Sie steht innerhalb des großen Kreises, ungerührt von der Kälte und der Tat der anderen Kreatur. Mit einem Räuspern macht der Slenderman wieder auf sich aufmerksam. „Ihr solltet die Augen schließen, wenn ich meinen Arm hebe.„ Mit viel Phantasie hätte man meinen können, dass er über unsere Reaktionen amüsiert ist. In der folgenden Stille nickt die nunmehr dämonische Gestalt von Redbird, und auch jeder von uns gibt dem Slenderman mit einem Nicken zu verstehen, dass wir verstanden haben. Jeder hat sich schon entschieden, und wenn es zum Ritual gehört, um eine Chance zu haben, im Syndikat aufgenommen zu werden, dann werden wir es hinter uns bringen.

Von den Runen beginnen seltsame Töne auszugehen, der Mexikaner hält sich ein Ohr zu, auch dem Amerikaner scheinen die Töne zuzusetzen. Der Runenzirkel und jedes Symbol, das sich darin befindet, beginnen violett zu schimmern. Auch der Kristall und die weibliche Gestalt selbst beginnen in derselben Farbe zu leuchten. Mir wird zunehmend unwohler und ich habe das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen. Als ich der Übelkeit nachgebe, macht sich Entsetzen in mir breit. Das, was aus meinem Mund kommt, hat nicht im Entferntesten etwas mit meinem Mageninhalt zu tun. Es handelt sich vielmehr um einen glitschigen, schwarzen Tentakel mit gelben Flecken. Auch den anderen beiden scheinen Tentakel aus dem Mund zu wachsen, bei dem Mexikaner türkis, unförmig und mit unzähligen Beulen, während der des Amerikaners einem Kraken ähnelt, völlig weiß und mit zahllosen Mündern übersät. Der Slenderman erhebt seine Stimme und beginnt in einer mir unbekannten Sprache zu reden. Woraufhin er einen seiner Tentakel in die Mitte streckt, in der sich auch die von uns dreien berühren. Daraufhin beginnt auch der Treffpunkt der Tentakel zu leuchten. Als der Slenderman seinen Arm hebt, kneifen wir alle die Augen zusammen. Ich weiß nicht, wie lange es dauert, aber über den gesamten Zeitraum, in dem ich die Augen geschlossen halte, dringen unaufhörlich Geräusche an mein Ohr, die ich nicht einordnen kann. Aber auch verzerrte, unmenschliche Schmerzensschreie sind zu hören. Bis es dann völlig still wird.

Es ist vollbracht“, dringen endlich die erlösenden Worte in meinen Verstand und ich öffne wieder die Augen. Keuchend und hustend halte ich meinen Bauch und Schmerz durchzuckt meinen Hals, als mich ein heftiger Reizhusten schüttelt. Nachdem ich einige Male gewürgt habe, fällt der Tentakel aus meiner Kehle auf den verschneiten Boden und ich richtete mich langsam wieder auf. Auch die anderen sind ihren unangenehmen und unerwünschten Fremdkörper losgeworden. In der Mitte des Zirkels schwebt die immer noch nackte Gestalt von Redbird. Doch ihre Haut ist nunmehr dunkelrot, fast schon schwarz, und Schatten wabern um ihren Körper, welche aus dem Kristall kommen. Dieser befindet sich nun dort, wo zuvor der Gesichtslose das „S„ in ihre Haut eingeritzt hat.

Langsam öffnet sie ihre Augen und wird von einem Tentakel des Anzugträgers in dieser schwebenden Position aufgerichtet. Die Schatten ziehen sich in den Kristall zurück und der Gesichtslose hilft Redbird aus dem Kreis. Kaum hat sie ihn verlassen, wird ihr Körper wieder völlig menschlich und beginnt zu zittern; ob vor Kälte oder von dem, was sie erlebt hat, während wir unsere Augen geschlossen hatten, kann ich nicht sagen. Könnte aber auch eine Mischung von beidem sein. Mit seinen langen Armen hebt der Slenderman den Mantel Redbirds auf und hilft ihr hinein. Sein Verhalten ist völlig widersprüchlich zu dem, was man über ihn hört. Viel zu fürsorglich für eine Kreatur, die kaltblütig Menschen tötet.

Als sie ihren Körper wieder völlig bedeckt hat, hebt der Gesichtslose auch noch die letzten Kleidungsstücke auf und steckt alles in eine Tüte, die sie aus einer Manteltasche herausholt. Mit einem schwachen Nicken bedankt sie sich bei dem unheimlichen Wesen. Als ich mich wieder an die anderen erinnere, wird mir bewusst, dass sie sehr lange schon sehr ruhig sind. Weswegen ich mich zu ihnen umdrehe. Noch in der Drehung wird mir eine Faust ins Gesicht gerammt. Ich sehe mich einer dieser Gestalten gegenüber, die mir auf dem Weg hierher im Wald aufgefallen sind. In einiger Entfernung liegen die toten Körper der anderen beiden auf dem Boden. Blut vermischt sich mit dem Schnee und bildet einen extremen Kontrast zum vorherrschenden Weiß der Umgebung. Als ich einem erneuten Hieb ausweiche, spricht Redbird mit sanfter, doch kratziger Stimme. „Je mehr du dich wehrst, um so schmerzhafter wird dein Tod sein, Lukas.“ Diese hinterhältige Schlange! Sie hatte nie geplant, einen von uns ins Syndikat zu bringen, geschweige denn uns am Leben zu lassen.

Mit diesem Gedanken stürme ich auf die noch etwas geschwächte Frau zu, blende meinen vorherigen Angreifer völlig aus. Doch bevor ich sie erreichen kann, bohrt sich ein schwarzer Tentakel des Slenderman auf Herzhöhe durch meinen Brustkorb. „Es tut mir leid, doch das kann und werde ich nicht zulassen„, beginnt dieser zu sprechen. Versuche noch seinen Worten zuzuhören, doch mit jedem Atemzug schwindet immer mehr Kraft aus meinem Körper. Im nächsten Moment liege ich auf der Seite und kann keinen der Beiden mehr sehen. Unvermittelt erscheint das Gesicht dieser verräterischen Kreatur in meinem Sichtfeld. Sie dreht mich von meiner seitlichen Lage auf den Rücken. Hasserfüllt starre ich mein Gegenüber an, doch sie sieht mich nur mit neutraler Miene auf mich herab. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Schwarze Schatten nehmen vollends mein Sichtfeld ein.


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Hikaru_Mitena

reihe/redbird/redbird_4.txt · Zuletzt geändert: 23.11.2020 08:47 von hikaru_mitena